ERLEBNIS VON MENSCHLICHKEIT


Hanna Kiels Augenzeugenbericht „Die Schlacht um den Hügel“ über die Belagerung und Besatzung in Fiesole beim Rückzug der Wehrmacht im Sommer 1944 ist endlich auch auf Deutsch erschienen

© Hagai Agmon-Snir/Wikipedia

Der Hügel Fiesole mit dem Convento di San Francesco im Dezember 2023 – Schauplatz deutscher Besatzung und Unterdrückung im August 1944

Mailand/Florenz – Das ist die Geschichte einer Wiederentdeckung – und einer Wiedergutmachung. Die Schriftstellerin und Kunsthistorikerin Hanna Kiel (1894-1988) beschrieb mit dem Text „Die Schlacht um den Hügel. Eine Chronik aus Fiesole vom August 1944“ die letzten Wochen der deutschen Besatzung des Hügels von Fiesole nördlich von Florenz, wo sie damals lebte. Der Text sollte 1947 im Südverlag Konstanz unter dem Titel „Florentiner Tagebuch“ erscheinen, wurde aber nie gedruckt (weil angeblich zu deutschfeindlich). Die Schweizer Zeitschrift DU veröffentlichte später Ausschnitte. Eine italienische Übersetzung der „Chronik“ kam 1986 in Florenz heraus. Die Germanistin Eva-Maria Thüne von der Universität Bologna hat über diese Übertragung das deutsche Original wieder entdeckt und es jetzt mit einem Nachwort versehen im Berliner AvivA Verlag erstmals auf Deutsch veröffentlicht.

Als die Alliierten im Zweiten Weltkrieg nach der Landung auf Sizilien (Juli 1943) auf der Apennin Halbinsel Richtung Norden vorrückten, bildeten die Deutschen nach und nach mehrere Verteidigungslinien. Im Sommer 1944 wurde die sogenannte Gotenlinie von Massa am Tyrrhenischen Meer im Westen bis nach Pesaro an der Adria im Osten aufgebaut, die nur unweit nördlich von Florenz vorbei führte. Wobei das Hügelland davor weiterhin so lange wie möglich gehalten wurde, solange die Stellungen der Gotenlinie nicht endgültig befestigt waren.

Das galt auch für Fiesole, das im August 44 zum Kampfgebiet erklärt wurde. Wobei die Zivilbevölkerung aus ihren Häusern getrieben, in Kelleranlagen und Ställe gepfercht und zu Arbeiten verpflichtet wurde. Zugleich nahmen die Aktionen des Widerstands zu. Mitte August gelang es den Alliierten, den Arno zu überqueren, nachdem die Deutschen alle Brücken (bis auf den Ponte Vecchio) gesprengt hatten. Doch die Kämpfe im Raum Fiesole zogen sich bis zum Monatsende hin, bevor sich die letzten Einheiten der Wehrmacht auf die Linie der befestigte Gotenstellung zurückzogen und ein von Chaos und Zerstörung geprägtes Gebiet hinterließen.

In der Zwickmühle

Die Ereignisse dieses August 1944 lässt Hanna Kiel in einer Art literarischen Bericht wach werden. Die damals 50-jährige Kunsthistorikerin, die in der von den Deutschen besetzten Villa Le Pallazzine in San Domenico am Fuß von Fiesole lebte, befand sich in einer Zwickmühle. Einerseits musste sie der Wehrmacht u. a. als Übersetzerin dienen, anderseits versuchte sie unter Lebensgefahr so weit wie möglich der Zivilbevölkerung zu helfen. Sie erlebt hautnah den Schrecken, die Brutalität des Krieges, der Menschen und Tiere hinraffte und die Seelen der Überlebenden vergiftete – aufseiten der Besatzer wie der Besetzten. Nicht alle waren gleich: Für einen  Oberfähnrich der Wehrmacht war Fiesole der ideale Art, um Florenz zu beschießen. Ein Feldwebel träumte dagegen davon, hier zwei Wochen zu sitzen und deutsche Klassiker in der Bibliothek von Hanna Kiel lesen zu können.

Einem Todesurteil konnte Hanna Kiel entfliehen und sich ein paar Tage verstecken. Als sie nach dem Abzug der Deutschen Anfang September zu ihrem Haus zurückkehrte, fand sie ein zerstörtes Anwesen vor. „Im Brunnen modert ein totes Lamm und bedroht uns mit tödlichem Typhus. Unter den faulenden Garben im Feld liegen Mienen verborgen. Unser Korn verwest, aber die Olivenbäume tragen schon neue Früchte.“

© Archivio Villa I Tatti

Hanna Kiel 1986 (Archivio Villa I Tatti)

Die Wiederentdeckung eines Textes ist auch die Wiederentdeckung einer Persönlichkeit. Hanna Kiel wurde 1894 in Hamburg-Altona geboren, wuchs in Westfalen auf, studierte an der Universität München Kunstgeschichte und promovierte 1922 über Ludwig Tieck. Sie bewegte sich in Intellektuellenkreisen, war u. a. mit Erika und Klaus Mann befreundet und arbeitet für die Zeitschrift „Genius“ des Verlegers Kurt Wolff. Lebte dann einige Jahre in Mailand. 1933 zog sie nach Berlin, arbeitet fürs Radio und den Film, stand dem sogenannten „Mädchenkreis“ um Annemarie Schwarzenbach nah und erprobte sich ohne sonderlichen Erfolg als Schriftstellerin. Ein Versuch, in die USA zu emigrieren, scheiterte, doch über einen Forschungsaufenthalt kam sie 1939 nach Florenz, wo sie bis zu ihrem Tod 1988 im Alter von 94 Jahren lebte.

Im Schatten einflussreicher Menschen

Nach dem Krieg pflegte sie Beziehungen zum deutschen Kunsthistorischen Institut, unterhielt Kontakte etwa zu Elisabeth Mann-Borgese, die eine Zeit lang in Fiesole wohnte, und arbeitet u. a. mit dem amerikanischen Kunsthistoriker Bernard Berenson eng zusammen. Sie war mit vielen einflussreichen Menschen ihrer Zeit bekannt, „blieb jedoch meist in deren Schatten“, wie die Herausgeberin Eva-Maria Thüne im Nachwort schreibt.

„Die Schlacht um den Hügel“ war Hanna Kiels letzter literarischer Text und wohl ihr bester, wie die Herausgeberin vermutet. Die besondere Perspektive einer Deutschen auf den Kriegsalltag sei „einzigartig“. Um sehr muss es Hanna Kiel getroffen haben, dass der Text nicht veröffentlicht wurde. In einem Vorwort (Sommer 1946) zu ihrem Augenzeugenbericht schrieb sie, dass ihre Arbeit Erlebnisse herausgreife, „Randgeschehnisse könnte man meinen, wie sie in Italien nach dem September 1943 überall in gleicher Weise wehrlos und sinnlos erduldet wurden.“ Und: „Nie werde ich den Dank abtragen können für das, was die Menschen dieses Landes als Wesentliches zu diesem Bericht beitrugen: das unvergessliche Erlebnis ihrer Menschlichkeit.“

Hanna Kiel: Die Schlacht um den Hügel. Eine Chronik aus Fiesole im August 1944. Hg. und mit einem Nachwort von Eva-Maria Thüne. AvivA Verlag, Berlin 2024. 160 Seiten, 20 Euro.

Hier ein Video zur Buchvorstellung

Hier ein Beitrag über Hanna Kiel auf der Webseite des Museo di San Marco