NEUGIER UND KÜHNHEIT


Ein Festival des europäischen Gegenwartstheaters am Piccolo Teatro mit 16 Stücken an 16 Tagen – und ein Fest zum 77-jährigen Bestehen der von Giorgio Strehler, Nina und Paolo Grassi 1947 gegründeten Mailänder Bühne

© Piccolo Teatro/Masiar&Pasquali

Verpanzerte Gefühle – Sandro Lombardi und Anna Bonaiuto in „Durante“ von Pascal Rambert

Mailand – Das internationale Theaterfestival am Piccolo Teatro „Presente Indicativo” („Indikativ Präsenz“), dass nach der erfolgreichen ersten Ausgabe 2022 im geplanten Biennale-Rhythmus jetzt vom 4. bis 19. Mai zum zweiten Mal veranstaltet wird, trägt den Untertitel „Milano Porta Europa“. “Porta“ lässt sich sowohl als Verb lesen („Mailand bringt/trägt Europa“) als auch als Substantiv („Mailand Tor Europa“). Einerseits geht es darum, vielfältigen Strömungen zeitgenössischer Dramaturgien mit Beiträgen u. a. aus Frankreich, Großbritannien, Polen, Spanien oder Portugal in Europa eine Plattform zu bieten, andererseits zeigt man sich offen für Wechselbeziehungen nach Lateinamerika (Argentinien, Chile) und natürlich zur eigenen, zur italienischen Szene. Auffällig fehlt u. a. der deutschsprachige Raum.

Das Programm bietet 16 Stücke an 16 Tagen, darunter Arbeiten der Französin Caroline Guiela Nguyen, des Spaniers (mit argentinischen Wurzeln) Pablo Messiez, des Briten Alexander Zeldin, des Polen Lukasz Twarkowski oder der italienischen Gruppe Fanny & Alexander. Den Auftakt macht der Franzose Pascal Rambert mit einer Eigenproduktion des Piccolos in italienischer Sprache mit einer Reflexion über die Beziehungen von Schauspielerinnen und Schauspielern untereinander und über ihr Rollenverhältnis. Insgesamt kommen elf Sprachen bei den Vorführungen (italienisch und englisch untertitelt) zum Einsatz. Als Spielplätze dienen die drei Bühnen des Piccolos, dazu kommen Aufführungen im Teatro Franco Parenti sowie in Industrieanlagen der Stadt. Geplant sind eine Reihe von begleitenden Veranstaltungen (Treffen mit den Schauspielgruppen, Diskussionen, Musik, Walk_Talks etc).

Trainingshalle der Demokratie

Nach Claudio Longhi, Direktor des Piccolos seit Dezember 2020, steht das Festivalprogramm in Zusammenhang mit der Idee einer Union eines Théâtre de l’Europe, die 1990 auf Initiative von Giorgio Strehler und dem damaligen französischen Kulturminister Jack Lang ins Leben gerufen wurde, um die Zusammenarbeit und den Austausch zwischen den europäischen Theatern zu fördern. In einem Begleitheft zum Festival fragt er sich: „Wie sieht das von Strehler erträumte und unterstützte europäische Kulturpanorama heute aus? Wie können wir in der heutigen europäischen Szene Grenzen überschreiten, um originelle Verbindungen zu schaffen, andere Sensibilitäten aufzufangen, gemeinsame Sprachen zu sprechen? Gibt es inmitten der Ängste, die die heutige Welt bedrängen, noch Raum für Utopien?“. Das Festival ziele darauf ab, „in ein Labyrinth von Antworten einzutauchen, mit der Neugier und der Kühnheit, eine dynamische Reihe von Hypothesen und Möglichkeiten zu durchforsten.“ Denn, so Claudio Longhi in einem Zeitungsbeitrag, das europäische Theater sei auch „Agon und Trainingshalle der Demokratie“.

Im Verlauf des Festivals begeht das Piccolo Teatro, das am 14. Mai 1947 Mit Maxim Gorkis „Das Armenhaus“ in der Regie von Giorgio Strehler eröffnet wurde, sein 77-jähriges Bestehen. Gefeiert wird u. a. mit der Wiederaufnahme einer Inszenierung von Patrice Chéreau – zehn Jahre nach seinem Tod – eines Textes von Marguerite Duras („La Douleur“) mit Dominique Blanc.

Presente Indicativo – Milano Porta Europa. Festival internazionale di teatro, Piccolo Teatro Milano, 4 – 19 maggio. Info hier