BOOMTOWN MAILAND


Wie neben der Finanz- eine Kulturmetropole gewachsen ist

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Bloß den Zug nach Mailand nicht verpassen – Graffito am Hangar Bicocca

Mailand – Die italienische Kulturhauptstadt 2017 ist Pistoia. Der Ort in der Toskana löst Mantua ab, das sich im vergangenen Jahr mit diesem Titel schmücken durfte. Der wird seit einigen Jahren vom Kulturministerium verliehen. Zu den Zielen gehört, in kleineren und mittleren Städten „kulturelle und landschaftliche Güter zu fördern“ sowie das „touristische Angebot zu verbessern“. Und gerade wurde Palermo für das Jahr 2018 gekürt. Aber die wirkliche Hauptstadt des kreativen Italiens in diesem Augenblick ist Mailand. Die lombardische Metropole hat nicht nur ihre führende Rolle in Design und Mode, bei Verlagen und Medien ausgebaut, sondern sie gibt auch in der Theater- wie in der Musikszene den Ton an – und vor allem in der Kunst der Moderne und der Gegenwart.

Bei Großveranstaltungen kann noch eine herausragende Bühne wie Venedig mithalten, Rom hat gerade versucht, mit einer Quadriennale wieder Fuß zu fassen, an Lebendigkeit jedoch ist Mailand nicht zu toppen. Das reicht von Privateinrichtungen wie Pirellis Hangar Bicocca bis zu öffentlichen Strukturen wie der Triennale, vom Spazio Ventura XV über die Fondazione Marconi bis zum kommunalen Pac. Von der Galerie einer Lia Rumma zu der von Kaufmann Repetto. Und was Prada angeht, wächst nicht nur der von Rem Koolhaas entworfene Komplex der Fondazione mit einem Ausstellungsturm seiner Vollendung entgegen, sondern gerade ist ein weiterer Ausstellungsbereich („Milano Osservatorio“) im Dach der Galleria zwischen Dom und Scala mit Fotos von italienischen und internationalen Künstlern eröffnet worden.

Swinging Mailand

In Mailand kann man zur Zeit Ausstellungen sehen von Laure Prouvost oder Rubens, Edward Kienholz oder Canaletto, Jean-Michel Basquiat oder Caravaggio. Neue öffentliche Museen wie das Mudec sind entstanden (ab 15. März gibt es hier Kandinskij). Ältere wie die des Castello mit Michelangelos Pietà Rondanini wurden neu geordnet. Die privaten Gallerie d’Italia an der Piazza Scala – eine Einrichtung der Banca d’Intesa – haben sich einen festen Platz in der Museumslandschaft erworben. Das Leonardo-Jahr 2019 (500. Todestag) wirft mit der Ausstellung „Archäologie des Abendmahls“ (ab 21. März im Castello Sforzesco) seine Schatten voraus. Der Palazzo Reale bietet gleich neben dem Dom Großausstellungen von Edouard Manet bis Keith Haring Raum.

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Der Dom in Rosa

Man fragt sich schon, ob der Verband der Verleger im Streit mit dem kränkelnden Turiner Buchsalon gut beraten war, eine eigene nationale Buchmesse ins Leben zu rufen. Aber jetzt, wo es zum Bruch gekommen ist, findet diese natürlich in Mailand statt (Tempo dei Libri). In diesem Jahr Mitte April gleich im Anschluss an die Design-Messe, die inzwischen mit ihren „off“-Veranstaltungen von einigen Stadtvierteln aus ganz Mailand ins Schwingen bringt. Zuvor haben rund 200 Kleinverleger Italiens auf der Messe „Bookpride“ (24. bis 26. März) im neuen Kultur- und Kreativzentrum BASE Gelegenheit, um auf sich aufmerksam zu machen.

Synergien zwischen Öffentlich und Privat

In keiner anderen italienischen Stadt gibt es diese Synergien zwischen öffentlicher Kulturpolitik und privaten Initiativen. Nirgendwo südlich der Alpen wird so in Kultur investiert wie hier. Allein eine Bankstiftung wie die Fondazione Cariplo hat in den vergangenen 30 Jahren mit rund einer Milliarde Euro Kulturprojekte in Mailand und der Lombardei unterstützt. Und die Weltausstellung Expo2015 konnte nicht nur ein positives Image verbreiten, sondern der Stadt auch neue Energien zuführen. Zum ersten Mal wird jetzt vom 3. bis zum 5. März „Museocity“ veranstaltet: 70 Einrichtungen öffnen ihre Türen um ein Exponat herauszustellen. Das reicht von römischer Kunst (Castello Sforzesco) bis zur modernen Büste einer Tänzerin (Studio Museo Francesco Messina), von einem Casorati-Gemälde (Villa Necchi Campiglio) bis zum Trikot der Meistermannschaft des FC Turin von 1948 (Museo San Siro).

Viele Mailänder trauen ihren Augen nicht, ihre Stadt hat sich geöffnet. Restaurants, Bars, Cafés laden zum Verweilen. Nicht nur in den Einkaufsstraßen und den Büros der Finanzwirtschaft herrscht eine internationale Stimmung. Mailand ist die Stadt mit dem größten Ausländeranteil Italiens (und den meisten ausländischen Restaurants des Landes). Lange Schlangen bilden sich auch alltags vor Anziehungspunkten wie dem Dom, wo Kultur und Tourismus sich mischen.

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Mailands Skyline im Spiegel neuer Palazzi

Architektonisch wächst Mailand über sich hinaus. Giò Pontis Pirelli-Turm aus den 1950er Jahren hat längst Nachahmer gefunden, die 200 Meter und höher gewachsen sind. Zaha Hadid und Arata Isozaki, César Pelli und Stefano Boeri haben in wenigen Jahren die Skyline umgekrempelt. Und wo die Kollegen in die Höhe streben, legen sich Herzog & de Meuron quer. Auch ihr Gebäude für die Feltrinelli-Stiftung misst fast 200 Meter – aber der Länge nach. 32 Meter hoch mutet es mit Spitzdach und angewinkelter Fassade irgendwie gotisch an und ist doch ganz Ausdruck des 21. Jahrhunderts.

Grüne Strahlen verändern das Erlebnis der Stadt

Der deutsch-italienische Landschaftsarchitekt Andreas Kipar hat „grüne Strahlen“ im einst grauen Stadtbild frei gelegt. Die Stadt kann in einem ganz neuen Rhythmus – zu Fuß oder mit dem Fahrrad – erlebt werden. Aufbruchstimmung wohin man schaut. In den Zulieferbetreiben der Kulturindustrien, in den Start-Ups, und in der Brera-Pinakothek unter einem neuen Chef auch. Doch koppelt sich die Stadt, die im Zentrum und im ersten Außenbereich einen kulturellen Boom ohne gleichen erlebt, immer mehr von ihrem Umland ab. Mit Kultur fruchtbar auch an den Rändern zu wirken, die sogenannte metropole Zone mit einzubeziehen, wird zu den Aufgaben der Zukunft gehören.

Wenn es typisch mailändisch war, am Wochenende die Stadt fluchtartig Richtung Berge, Seen oder Meer zu verlassen, so wird es jetzt Mode dazubleiben. Kultur ist Leben, Kreativität braucht Innovation. Italien braucht eine Kulturhauptstadt wie Mailand, die auch auf andere, auf altehrwürdigen Orte dieses an gewachsener Kultur so reichen Landes abfärbt und Impulse gibt.

Info über Ausstellungen in Mailand 2017/2018: Milano mostre – exhibitions 2017

In kürzerer Fassung ist auch ein Beitrag in der Kunstzeitung (Februar 2017) erschienen