DER HASS VERGIFTET DIE SEELE


Ein Besuch bei Liana Millu in Genua, der Autorin „schöner Literatur“ über den Holocaust: „Rauch über Birkenau“ und „Die Brücke von Schwerin“

Genua (November 1998)- Ein freies Leben wollte sie führen, doch die Zeiten waren nicht danach. Liana Millu, 1914 in Pisa geboren, träumte davon, Journalistin zu werden. Sie wollte sich von den Fesseln der Familie und der Religion lösen. Eine erste Anstellung als Lehrerin in Volterra gab ihr die ökonomische Sicherheit, gelegentlich Texte für Zeitungen zu schreiben. Im Sommer 1938 allerdings, noch bevor die italienische Regierung ein Paket von Rassengesetzen verabschiedete, die zu dem Zeitpunkt schärfer waren als die Hitlers, ließ das Unterrichtsministerium bereits Schulen und Universitäten von Juden „säubern“.

Die Widerstandgruppe „Otto“

Und Liana Millu war Jüdin. Die junge Frau schlug sich dann ein paar Jahre als Privatlehrerin durch. Später fand sie in Genua Anschluß an die Widerstandsgruppe „Otto“, sogenannt nach ihrem Gründer, den Chirurgen Ottorino Balduzzi. In Kontakt zum bürgerlichen Widerstand (Edgardo Sogno) trat die Gruppe Otto vor allem nach dem 8. September 1943 auf, als König und die Badoglio-Regierung geflohen waren und die Deutschen das Land besetzt hielten. Otto gelang es, Verbindung zu den Alliierten auf Korsika aufzunehmen und mit strategischen Informationen zu beliefern. Bei einem Kurierauftrag wurde Liana Millu 1944 in Venedig festgenommen. Die Zugehörigkeit zum Widerstand konnte sie verheimlichen, ihre Rasse nicht. Über das Polizei- und Durchgangslager Fossoli kam sie ins Lager Birkenau bei Auschwitz.

Liana Millu 1914 – 2005

„Ich habe immer großes Glück im Unglück gehabt“, sagt die heute Fünfundachtzigjährige, die in Genua in einer kleinen Wohnung unweit des Meeres lebt. Als Widerstandskämpferin wäre sie vermutlich von der Gestapo gefoltert und hingerichtet worden. Der Transport nach Auschwitz war dann weniger entwürdigend, weil sich bis Köln eine Gruppe von Franzosen und Tunesier im Zug befand, die unter der Aufsicht des Internationalen Roten Kreuzes stand. Und als die Deportierten schließlich in das bereits überfüllte Lager einmarschierten, ging sie in der letzten Reihe, die durchgelassen wurde. „Die anderen Frauen von der Reihe hinter mir angefangen“, erzählt Liana Millu, „mußten kehrt machen. Sie erlebten den nächsten Morgen nicht mehr.“

Solidarität im Lager

In den autobiographischen Erzählungen „Der Rauch über Birkenau“ hat sie mit beklemmender Genauigkeit vom Arbeiten und Sterben im Lager berichtet – aber auch von den Gefühlen der Frauen und der täglichen Solidarität. Das Buch aus dem Jahr 1945, das bei einem kleinen Mailänder Verlag 1947 gedruckt worden war und 1986 von La Giuntina in Florenz neu aufgelegt wurde, blieb in Deutschland lange unbekannt (die Rechte lagen bei Ullstein, der sich aber scheute eine Übersetzung zu veröffentlichen), bis es 1997 bei Antje Kunstmann in München herauskommen konnte. „Der Rauch über Birkenau“ wurde als literarisches Ereignis gefeiert, weil hier eine Autorin nicht nur vom Schrecken berichtet, sondern ihn auch in der literarischen Distanz bannen und für die Nachwelt aufheben kann.

Eine „poetische Trauer“

Mit ihrer Erzählmethode geht die Millu noch weiter als etwa Primo Levi in seinem berühmten Lagerbuch „Ist das ein Mensch?“. Levi wiederum lobte die „poetische Trauer“ in den Texten von Liana Millu. Diese Trauer kann man auch in ihrem zweiten Buch wiederfinden, das jetzt in der einfühlsamen Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel vorliegt: „Die Brücke von Schwerin“.

In diesem Roman erzählt Liana Millu die ersten Schritte nach der Befreiung. Sie konnte Birkenau überleben, weil sie – wie sie sagt – „wiederum ungeheures Glück gehabt hatte.“ Nach fünf Monaten Vernichtungslager wurde sie als tüchtige Arbeiterin zunächst nach Ravensbrück und dann in das Lager Malkow bei Stettin verlegt – die deutsche Waffenindustrie brauchte inzwischen jede Arbeitskraft. „Aber wenn das Kriegsende nicht gekommen wäre, wäre ich wohl verhungert“, sagt sie.

Flucht nach Westen

So machte sie sich in den Tagen des Zusammenbruchs gemeinsam mit einer französischen Freundin von Malkow auf, den Westen zu erreichen. Bei Schwerin, so hatten sie gehört, komme man über eine Brücke ins Gebiet der Alliierten jenseits der Demarkationslinie. Bald trennten sich die Wege der Frauen. Die Ich-Erzählerin Elmina, das alter ego der Autorin, stand allein auf einer Chaussee: „Ich wußte nicht, wo ich war, nur gerade, wohin ich wollte, aber ich wanderte allein und frei über diese schöne, verlassene Straße dahin, und das genügte, um mich vor Freude jubeln zu lassen. Endlich!“

In „Die Brücke von Schwerin“ erzählt die Autorin von ihrem Weg nach Schwerin, von flüchtigen wie von intensiven Begegnungen mit anderen Heimkehrern – und von der feindlichen Skepsis auf Seiten der deutschen Bevölkerung. Hat Liana Millu die Deutschen nicht so endgültig hassen gelernt?

„Der Haß“, so sagt die kleine Frau heute, „vergiftet die Seele.“ Sie wollte nicht Opfer dieses Giftes werden, „ich hatte nur den Wunsch, daß nach dem Krieg Recht gesprochen würde. Das Recht hat kalte Augen, die dürfen nicht hassen.“ Und wie zur Bestätigung fügt sie hinzu, daß einige ihrer Freunde heute in Genua zur deutschen Kolonie der ligurischen Hafenstadt gehörten. Umgekehrt ist ihr des schreckliche Schuldgefühl, überlebt zu haben, das viele der Davongekommenen gequält hat, fremd. „Ich habe Glück gehabt, es hätte auch anders kommen können, weshalb sollte ich mich schuldig fühlen?“

Biographische Wurzeln des Romans

Der Roman hat, wie schon die Lagererzählungen, eindeutige biographische Wurzeln. Wenig hat die Autorin dazu erfunden, wenn auch vieles literarisch gestaltet. Es überrascht aber, im Gespräch zu erfahren, daß eine der eindrucksvollsten Figuren, der Holländer Willem, mit dem Elmina eine zarte Liebesgeschichte verbindet, in den Bereich der Fiktion gehört. „Willem gab es wirklich, aber er war für mich nicht mehr als ein kurzer Blick aus freundlich blauen Augen.“ Dieser Blick habe sie dann gleichsam dazu verführt, mit Willem literarisch einen Teil des Weges nach Schwerin zu verbringen.

Im Buch wird auch eine Parallelgeschichte erzählt, vom Heranwachsen der Elmina, von ihren Lehr- und Wanderjahren, von ihren Lieben und Geliebten. Dieser Handlungsstrang bricht merkwürdig ab, und das hat einen Grund. Die deutsche Übersetzung schneidet einen Roman entzwei, der im zweiten Teil die fast tragische Rückkehr nach Italien beschreibt. „Im Lager kam ich nie in die Versuchung, mir das Leben zu nehmen, wie übrigens im Gegensatz zu vielen Männern nie eine Frau in Auschwitz den Suizid gesucht hat. Aber als ich nach Genua zurück kehrte, war ich ganz nahe dran…“

Dieser zweite Teil, den die deutsche Übersetzung leider unterschlägt, so als kümmere uns das Geschehen im fernen Italien nicht, führt dann die beiden Geschichten der Elmina zusammen, die als Heimkehrende wieder auf die Spuren der Heranwachsenden getroffen war. Schließlich stand sie am Ende eines Weges, der auf einer Allee in Pommern begonnen hatte: „Sie war allein, war frei. Sie war stark… Endlich!“

Liana Millu begann nach dem Krieg, wieder zu unterrichten. Und vor allem begann sie zu schreiben: „Ich setzte mich an die Maschine und schrieb, als wenn jemand mir diktierte.“ Es sei wie eine Katharsis gewesen, „ich blieb befreit.“

Liana Millu: Die Brücke von Schwerin (1997, 195 Seiten), sowie: Der Rauch über Birkenau (1998, 190 Seiten). Aus dem Italienischen jeweils von Hinrich Schmidt-Henkel im Verlag Antje Kunstmann, München. Je 32 DM.

NACHTRAG Liana Millu verstarb 2005 im Alter von 90 Jahren in Genua. Die beiden Romane sind auf Deutsch auch bei Fischer als Taschenbuch erschienen ( Birkenau: hier – und Schwerin: hier)