EINE ART DIGITALE DEMOKRATIE


Ein Besuch bei dem Rechtsphilosophen Paolo Becchi in Genua, der der 5 Sterne Bewegung nahe steht

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Das Movimento 5 Stelle mischt Italiens Parteienlandschaft auf – Graffito in Mailand

Genua/Mailand (Mai 2013) – Im parlamentarischen System von Italien knirscht es gewaltig. Der Movimento Cinque Stelle (M5S), der sich als Sieger der letzten Parlamentswahlen im Februar dieses Jahres fühlen darf, hat einen totalen Konfrontationskurs gegenüber den traditionellen Parteien eingeschlagen. Mehr noch, die von Beppe Grillo und Gianroberto Casaleggio gegründete Fünf-Sterne-Bewegung stellt die System-Frage. Sie will die repräsentative Demokratie erneuern und das Parteiensystem ablösen. Der Rechtsphilosoph Paolo Becchi sagt, die alten, weitgehend korrupten Parteien seien „Reste der Vergangenheit“, die Letta-Regierung als große Koalition zwischen der Berlusconi-Partei (PDL) und den Sozialdemokraten (PD) bleibe „ein Witz“.

Paolo Becchi

Paolo Becchi

Becchi lehrt an der an der Universität Genua. Zusammen mit seiner Frau Anna Becchi, die als Übersetzerin (aus dem Deutschen) arbeitet, ist der Rechtsphilosoph einer von bislang wenigen Intellektuellen, die die Grillini öffentlich unterstützten. Und der deshalb von den wichtigen Medien des Landes, die sich von links bis rechts gleichsam in stiller Absprache zur Unterstützung der Letta-Regierung entschlossen haben, als Störenfried angesehen wird – als „cialtrone“ (Kanaille) gar, wie ihn ein Journalist der Tageszeitung la Repubblica auf Twitter bezeichnete.

Was wollen die Grillini ?

Was also wollen die Grillini? Ziel sei es, so der 58jährige Professor, das alte Parteiensystem durch eine Bewegung zu ersetzen, die von unten komme, sich an konkreten Themen orientiere und eine Vision habe: nämlich das Instrumentarium der repräsentativen Demokratie durch das der direkten Demokratie zu ersetzen. Wobei das Internet in Zukunft eine immer wichtigere Rolle spiele und man deshalb auch „von einer Art digitalen Demokratie“ sprechen könne. Auf dem Weg dahin gehe es jetzt darum „auf der Basis der Verfassung“ etwa das Mittel der Volksbefragung zu verfeinern. Und dabei in Italien nicht nur wie bislang allein abrogative, sondern etwa nach Schweizer Vorbild auch konstitutive Referenden ohne Quorum (Mindestwahlbeteiligung) zuzulassen. Oder im Parlament mit wechselnden Mehrheiten wichtige volksnahe Themen (wie die Blockierung der Hochgeschwindigkeitstrasse zwischen Turin und Lyon) durchzusetzen.

Dass es sich bei der digitalen Demokratie um eine grundsätzliche Frage handelt, zeigt auch der programmatische Titel des Buches von Grillo/Casaleggio „Siamo in Guerra – per una nuova politica“ („Wir sind im Krieg – für eine neue Politik“), das 2011 bei Chiarelettere in Mailand erschienen ist. Eine ähnliche Entwicklung hat es in den westlichen Demokratien seit dem Ende des zweiten Weltkriegs nicht gegeben. Läuft in Italien ein politischer Zukunftsfilm an?

Politischer Ausdruck der Zivilgesellschaft

Die traditionellen römischen Parteien haben jedenfalls den Fehdehandschuh aufgenommen. Sie wollen ihrerseits der Fünf-Sterne-Bewegung den Garaus machen. Der PD hat gerade einen Gesetzentwurf eingebracht, der als lange überfällige Ausführungsbestimmung des Artikels 49 der italienischen Verfassung (die 1947 verabschiedet wurde) die „Bildung des Staatswillen“ regeln soll. Nach dem Gesetzentwurf sollen in Zukunft Bewegungen und Vereinigungen unwählbar seien, die sich nicht als Partei und dementsprechend als juristische Person konstituieren – was der M5S nicht will, der gerade darin die Basis für das korrupten System der Parteienfinanzierung sieht. Die herrschenden Parteien wollen sich, so Becchi, mit diesem Gesetz endgültig „konstitutionalisieren“. Sie wollen „Organe des Staates“ werden und nicht mehr politischer Ausdruck der Zivilgesellschaft sein.“

Fünf Themenschwerpunkte

In Deutschland wird die Grillo-Bewegung kritisch gesehen. Man schätzt sie als populistisch, teilweise sogar demokratiefeindlich ein. Alles falsch, sagt Becchi. Der M5S mit seinen fünf Themenschwerpunkten („fünf Sternen“), zu denen unter anderem eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung, freier Internetzugang für alle und der Schutz der Umwelt gehören, erinnert den Intellektuellen an die Grünen der ersten Stunde in der Bundesrepublik. In der Fünf-Sterne-Bewegung haben viele junge Menschen ihre apolitische Haltung abgelegt und begeistern sich wieder für Fragen des Zusammenlebens. Auch wenn es im M5S wertkonservative und teilweise „rechte“ Mitglieder gäbe, handele es sich im Kern doch um eine „ökologische Bewegung“, die alte Ideologien überwinden wolle. Um etwas Neues, das dabei sei, die alten linken Parteien abzulösen. Der PD sei doch nur noch „eine Partei ohne Identität aus Ex-Kommunisten und Ex-Christdemokraten“, und ihr Führungspersonal bestehe aus „Frauen und Männern ohne Eigenschaften“.

Ein Sturm der Entrüstung

Nicht immer wählt der Professor seine Worte so mit Bedacht wie im Gespräch in seiner mit Büchern vollgestopften Wohnung in Genua unter großen abstrakten Wandgemälden und einem Foto von Wittgenstein. „Wenn jemand in ein paar Monaten zu den Waffen greift, dürfen wir uns nicht beklagen. Wir haben wieder einen Bankier zum Wirtschaftsminister gemacht.“ Diese Aussage von Becchi während eines Radiointerviews über Wirtschaftsminister Fabrizio Saccomanni, der zuletzt als hoher Beamter der italienischen Zentralbank tätig war, löste kürzlich einen Sturm der Entrüstung aus. Die Medien stellten den Satz über den Griff zu den Waffen in den Zusammenhang mit anonymen Gewaltandrohungen gegen Berlusconi und mit Flugblättern, die ein Attentat in Rom auf zwei Polizisten vor dem Sitz des Ministerpräsidenten am Tag der Vereidigung der Letta-Regierung verherrlicht hatten.

Der Rektor der Universität Genua warf daraufhin seinem Professor vor, „er solle sein Gehirn einschalten“, bevor er sich öffentlich äußere. Und sogar die Abgeordneten des M5S distanzierten sich von ihrem Gesinnungsfreund, der die Fünf-Sterne-Bewegung plötzlich in eine Gewaltdebatte verstrickt hatte. Das löste wiederum im Internet unter den Grillini eine Sympa¬thiewelle für den Professor aus, die die beiden wichtigen Blogs der Bewegung (www.beppegrillo.it bzw. www.byoblu.com) überschwemmte. Ein Tweet von Beppe Grillo selbst führte dann zu einer „Rehabilitierung“ des Philosophen. Byoblu setzte daraufhin einen Beitrag des Philosophen unter den Titel: „Becchi reloaded“.

Die Bewegung ist „absolut gewaltfrei“

Vielleicht sei er bei diesem Telefoninterview wie bei anschließenden Fernsehauftritten „zu naiv“ gewesen, gibt der Professor heute zu. Doch seien seine Aussagen bewusst instrumentalisiert worden. Die Bewegung sei „absolut gewaltfrei“. Wenn es bislang in Italien nicht zu größeren gewalttätigen Aktionen gekommen sei, dann sei das vor allem dem M5S zu verdanken, der den Protest gegen das alte System „demokratisch kanalisiert“ habe. Und hat nicht gerade sogar der Präsident der EZB Mario Draghi kürzlich vor möglichen sozialen Unruhen in Italien gewarnt? Wenn jetzt die Fünf-Sterne-Bewegung bei kommenden Wahlen zu einer außerparlamentarischen Kraft gemacht werde, bestehe dann nicht erst recht die Gefahr, dass Gewalt ausbrechen könnte?

Paolo Becchi hat eine hitzige Debatte ausgelöst. Zugleich erinnert ihn der Umgang von Medien, „die diese Regierung publizistisch unterstützten und die Grillo-Bewegung bekämpften“, an Bölls Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“. Er musste sich tagelang bösen Verdächtigungen erwehren. Unter seinen Studenten tauchten Journalisten auf, so erzählt er, die nach angeblich dunklen Seiten in seinem Privatleben suchten. Das politische Klima in Italien zeigt sich alles andere als heiter.