WIR SAGEN NEIN, NEIN, NEIN!


Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst der Populismus. Es schaut dem Volk aufs Maul und stellt die Eliten an den Pranger. In Italien wurde gerade der reformwillige Ministerpräsident Matteo Renzi Opfer einer solchen Stimmung. 

Oben und unten waren sich in Italien nie ganz grün - Szene aus der Republik der Neinsager

Oben und unten waren sich in Italien nie ganz grün – Straßenszene aus der Republik der Neinsager

Mailand/Rom – Sechzig zu Vierzig, ein deutlicher Sieg der Neinsager bei guter Wahlbeteiligung (70 Prozent) – das hätte sich kaum einer erwartet. „Die Italiener sind wütend“, sagt der Politologe und Historiker Gian Enrico Rusconi. Viele fühlten sich abgehängt. Die Wirtschaft wächst schon lange nicht mehr, sie stockte bereits vor der Weltmarktkrise 2007/2008. Der Mittelstand veramt. Die Jugend bleibt ohne Perspektive. Die Gewerkschaften zerfallen. Und von „oben“, von der Regierung, von den Spitzen der Vereinigungen und der Verbände, von den Aufsichtsräten der Banken und Industrieunternehmen, kamen zuletzt immer flottere Sprüche, wenn von „unten“ Missmut laut wurde.

Doch den Versprechungen folgten wenige Taten. Wenn sie, wie etwa die Reform des Arbeitsmarktes, erste positive Auswirkungen zeigten, wurden sie in der Breite nicht richtig wahrgenommen. Oder gar als eine Art „Trinkgeld“ verachtet, wie ein 80 Euro Bonus für Wenigverdiener oder eine 500 Euro Scheck für Jugendliche, einzulösen in Kulturausgaben.

Die bunte Mischung der Neinsager

Und jetzt dieses Referendum über die Verfassung – eine gute Gelegenheit, Dampf abzulassen. „Und das haben sich die Italiener“, so Rusconi, „nicht entgehen lassen.“ Dabei ist es zu einem merkwürdigen Schulterschluss gekommen zwischen denjenigen, die sich ernsthaft Sorgen um die Verfassung machen, mit Linksextremen, die das Schreckgespenst einer autoritären Staatsführung an die Wand malen. Mit Rechtsextremen, die sich vor Globalisierung und Emigrationsdruck durch Abschottung schützen wollen. Mit Nationalisten, für die „Europa“ der Hort allen Übels ist und der Euro eine Währung der Deutschen.

copyright Luca Zennaro

„Wähle JA – Diesmal NEIN“ – Wahlplakate in Genua

Diejenigen, die alles verändern wollen, sahen sich mit ihrem Nein an der Seite mit der großen Zahl derjenigen, denen jede Veränderung ein Gräuel ist, weil sie mühsam erworbene Privilegien in Frage stellen könnten. Auch mit denen, die überhaupt Matteo Renzi mal eins auswischen wollten. Darunter sogar Mitglieder seines Partito Democratico (PD), einer nicht gerade einheitlichen Partei aus Altkommunisten, Sozialdemokraten und linken Christdemokraten. Die Koalition der Neinsager war eine tolle Mischung aus Antikapitalisten und Moralisten, aus Populisten und Liberalen, aus Sozialempfängern und Intellektuellen, aus Arbeitslosen und Millionären – aus Volk und Elite(n).

In Italien gehört eine kritische, ja ablehnende Haltung gegenüber den Einrichtungen des Staates und gegenüber den Eliten der Gesellschaft zur Tradition. Als das Land (im Vergleich zu anderen Nationen ähnlich spät wie Deutschland) in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem Einheitsstaat wurde, stärkte man aus Angst vor großen regionalen Unterschieden den Zentralstaat mit seinen von Rom aus gesteuerten Institutionen. Gegen die als fern und fremd empfunden Einrichtungen, die Präfekturen und Polizeikasernen, die wenig Verständnis zu lokalen Wirklichkeiten zeigten, entwickelten sich Gegenstrategien. Allen voran familiäre Vernetzungen, wo man sich im Privaten absicherte, um sich vor dem Öffentlichen zu schützen. Man fand Arbeit über Verwandtschaft, wurde von Verwandten sozial unterstützt und von ihnen in allen Lebensfragen gefördert. Zugleich bildeten sich lokale Eliten heraus. In Süditalien kam es örtlich zu Fehlentwicklungen durch mafiöse Gebilde, die auf verbrecherische Weise eine Art Parallelstaat mit eigenen Gesetzen und Sozialmaßnahmen aufbauten.

Mehr Wut im Süden als im Norden

Im Laufe der stürmischen Entwicklung Italiens zur heute achtgrößten Industrienation der Welt hat sich vieles verändert. Den Regionen wurden größere Selbstbestimmung zugebilligt. Aus dem Familiensinn hat sich gleichsam als solidarischer Ableger eine Freiwilligenbewegung gebildet, die in Europa ihres gleichen sucht. Das Land steckt auch auf Grund seiner langen handwerklichen und kulturellen Tradition voller wirtschaftlicher Möglichkeiten. In einigen hoch spezialisierten Industriezweigen, auch bei Luxusgütern, ebenso in den Bereichen Lebensmittel, Design, Mode sind italienische Unternehmen führend. Probleme gibt es allerdings im Bankensektor.

Und es bleiben große landschaftliche Unterschiede. Die Lombardei mit der sich ganz international gebenden Metropole Mailand gehört wie Venetien zu den reichsten Regionen Europas. Die Schattenseiten zeigen sich hier in den sozialschwachen Peripherien der Städte und den abgelegenen ländlichen Gebieten, wo die Verlierer der Deindustrialisierung und Globalisierung leben. Bei Wahlen geben sie – halb aus Protest, halb aus Überzeugung – der kleinbürgerlich-reaktionären Partei Lega Nord ihre Stimme. So kommt es, das ausgerechnet diese beiden Regionen von Vertretern der Lega in Koalitionen mit Berlusconis Rechtsliberalen verwaltet werden.

Der unterentwickelte – genauer: der falsch entwickelte Süden des Landes leidet derweil unter einer mediokren lokalen Polit-Klasse ebenso wie unter katastrophalen Missachtung durch das Restitalien, das dem Süden höchstens folkloristische Qualitäten zuspricht. Ein Autor wie Roberto Saviano wird nicht Müde, mehr Respekt und Aufmerksamkeit einzuklagen. Und auch die andauernden Präsenz von Gruppen der organisierten Kriminalität ernst zu nehmen, die einer wirtschaftlichen Entwicklung und gesellschaftlichen Modernisierung im Wege steht.

Den Süden vernachlässigt und haushoch verloren - Matteo Renzi nach der Wahl

Den Süden vernachlässigt und haushoch verloren – Matteo Renzi nach der Wahl

So rutsch der Süden immer weiter ab. Wenn heute etwa in Südtirol 13,7 Prozent der Bevölkerung an der Armutsgrenze stehen, sind das nach jüngsten Zahlen des nationalen Statistikamtes auf Sizilien 55,4 Prozent. Was das für die Stimmungslage bedeutet, kann man am Wahlergebnis ablesen. Südtirol gehört zusammen mit der Emilia-Romagna und der Toskana zu den wenigen Regionen, wo die Jasager vorne lagen. Auf Sizilien erreichten die Neinsager mit 71,3 Prozent gerade zu eine plebiszitäre Mehrheit. Andere Regionen des Südens standen dem Ergebnis kaum nach, übertroffen wurde es auf Sardinien sogar mit 72,5 Prozent. Im Süden habe das Nein gewonnen, kommentiert Saviano in „la Repubblica“ das Ergebnis der Volksabstimmung, „weil die Menschen es einfach nicht mehr aushalten, marginalisiert zu werden.“

Die meisten trauen nur noch den Carabinieri – und der Kirche

Das war eine Protestwahl, bei der nicht wie etwa zuletzt in Großbritannien und Frankreich ein Gegensatz zwischen Stadt und Land sichtbar wurde. Neinsager lagen bis auf wenige Ausnahmen (Mailand, Bologna, Florenz) auch in den Städten vorn. Und noch etwas fällt auf. Die Jungwähler haben, wie La Stampa“ berichtet, sich nicht dem jüngsten Ministerpräsidenten in der Geschichte Italiens zugewandt, sondern bei hoher Wahlbeteiligung (81 Prozent der unter 35jährigen Wahlberechtigten) zusammen mit der alten Garde der Politik mit „Nein“ gestimmt. Erst bei den älteren Wählern, die sich wohl noch der Missregierung früherer Zeiten erinnert haben, gab es eine Zustimmung für den jugendlichen Renzi. Erstaunlich zudem, dass etwa das Thema Zuwanderung auch im Wahlkampf nicht die Rolle gespielt hat, die man angesichts der Zahlen von Emigranten, die an Italiens Küsten landen, vielleicht erwartet hätte. Die Italiener sind sauer, weil sie meinen, es ginge ihnen schlechter als früher. Aber sie schieben das in ihrer Mehrzahl (noch) nicht den Fremden in die Schuhe.

Wenn es heute um das Verhältnis zum Staat, zur Politik und zu den Eliten geht, zeigen sich die meisten Landsleute Jahr um Jahr tiefer enttäuscht. Bei Umfragen erhalten nur noch Ordnungshüter wie die Carabinieri sowie die Kirche gute Werte. Ganz schlecht schneiden die Parteien und Verbände, auch die Gewerkschaften ab. Der Parteigründer, mehrfache Ministerpräsident und Medienmogul Silvio Berlusconi hatte deshalb während seiner Amtszeit immer wieder das „Polit-Theater“ der traditionellen Parteien lächerlich gemacht. Und konnte damit bei vielen, aber wenig aufmerksamen Wählern landen, obgleich er auf dieser Bühne kräftig mitgespielt (und nicht immer die beste Figur abgegeben) hatte. Nun ist er nur noch Statist.

Verantwortlich auch für den Regen

Dem Führungspersonal in Wirtschaft und Politik traut man alles Schlechte zu. „Piove, governo ladro“ – heißt in aller Ironie ein altes Sprichwort, nachdem die Regierung auch das schlechte Wetter zu verantworten habe. Natürlich geht es um mehr. Sparer, darunter viele Rentner, sehen sich bei der Krise mehrerer regionaler Banken um ihre Guthaben beraubt. Die Ausgaben im Gesundheitssystem steigen, während die Leistungen nachlassen. Der Steuerdruck ist so hoch wie in kaum einem anderen europäischen Land, inzwischen bitten auch die notleidenden Kommunen ihre Bürger zur Kasse. Und trotz Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen liegt die Arbeitslosenquote konstant bei 11,7 Prozent (Deutschland 5,4 Prozent). Nicht gerechnet diejenigen, die es in den letzten Jahren aufgegeben haben, überhaupt nach Arbeit zu suchen. Und die Jugendarbeitslosigkeit erreicht in manchen Gebieten Süditaliens 50 Prozent und mehr.

copyright Corriere della Sera

Richter Camillo Davigo: „Die Politiker stehlen mehr als früher“

Und was machen einige Politiker und Beamte? Sie kassieren ab. Die Korruptionsskandale der 1990er Jahre wirken nicht nur nach – sie haben zumindest auf lokaler Ebene eigentlich gar kein Ende genommen. Es häufen sich wieder die Fälle, dass bei öffentlichen Ausschreibungen, derjenige gewinnt, der sich vorher die Daten seiner Mitbewerber von den Behörden „gekauft“ hat. Und wenn es mal schief geht, und wie jüngst im norditalienischen Pavia der falsche gewinnt, wird die Ausschreibung eben wiederholt. Der gegenwärtige Vorsitzende des Richterbundes Camillo Davigo, der einst zum Pool der Staatsanwälte gehörte, die von Mailand aus unter dem Namen „Mani pulite“ die Skandale aufgedeckt hatten, sagte kürzlich dem Corriere della Sera: „Die Politiker stehlen heute mehr als früher. Sie schämen sich nur nicht mehr.“

Der Verfall ganzer Berufsgruppen

„Senza vergogna“ – schamlos – ist ein Stichwort, das den Grundbass zur jüngsten Buchveröffentlichung des Journalisten Sergio Rizzo gibt. Rizzo hatte bereits vor einigen Jahren zusammen mit dem Kollegen Gian Antonio Stella mit dem Bestseller „La Casta“ (Rizzoli 2007) die Auswüchse der Politiker als die einer Kaste beschrieben, die sich ein Leben lang unverfroren der Staatskasse bedient.

"Die Republik der Taugenichtse" (Feltrinelli)

„Die Republik der Taugenichtse“ (Feltrinelli)

Jetzt legt er in seinem neuen Buch „La Repubblica dei Brocchi“ (Feltrinelli 2016) nach. „Die Republik der Taugenichtse“ ist eine bittere Abrechnung mit dem „schamlosen Verhalten“ des Leitungspersonals in öffentlicher Verwaltung wie in privaten Unternehmen. Dazu gehört, dass man Gerissenheit („furbizia“) als soziale Tugend ansieht. Sich rühmt, Normen zu umgehen. Und alles tut, um ein zusätzliches Einkommen einzustreichen oder ein Privileg zu rechtfertigen. Bürokratie, fehlende Konkurrenz und Postenvergabe auf der Grundlage privater Beziehungen: Das, so Rizzo, „sind die Hauptgründe für den Verfall ganzer Berufsgruppen.“

Keine Heimat für Underdogs

Man sollte meinen, dass der Unmut, der so bei weiten Teilen der Bevölkerung wächst, von einer sich sozialdemokratisch verstehenden Partei wie dem Partito Democratico des inzwischen zurückgetretenen Ministerpräsidenten Matteo Renzi, aufgegriffen wird. Doch Renzi hat zunehmend mit Slogans regiert („Wir sind auf dem richtigen Weg“). Als Parteivorsitzender hat er sich um den Apparat gekümmert und darum, die innerparteiliche Opposition in Schach zu halten. Und gar nicht daran gedacht, den sozialen Underdogs im Land mit seiner Partei auch eine kulturelle Heimat zu geben.

Der Philosoph und frühere Bürgermeister von Venedig Massimo Cacciari, der dem Partito Democratico nahe steht, geht deshalb mit der Partei äußerst kritisch um. Sie sei, so sagt er in einem Interview mit der Tageszeitung la Repubblica den Eliten und Modellen der Rechten nachgelaufen. Sie habe dabei die Teile der Gesellschaft aus dem Auge verloren, die einst die Stärke der Sozialdemokratien ausgemacht hätten. Erst wenn sie wieder Arbeitern, Angestellten und sozial Benachteiligten auch der Mittelschicht eine Stimme geben würde, habe sie ein Chance, über eine längere Zeit Regierungsverantwortung zu tragen. „Andernfalls gewinnt Grillo.“

Für eine digitale Republik - Beppe Grillo

Für eine digitale Republik – Beppe Grillo

Ja, Beppe Grillo. Der 68jährige Komiker und Blogger  hat seine Protestbewegung Cinque Stelle („Fünf Sterne“) zu einer politischen Kraft gemacht, die heute in Umfragen mit rund 30 Prozent der Wählerstimmen gleichauf mit dem PD liegt und ihn morgen vermutlich überrundet. Als stärkste Kraft einer Protestbewegung gegen die alten Eliten in Staat und Gesellschaft, möchten die Fünf-Sterne-Bewegung eine ganz neue, eine „digitale“ Demokratie schaffen, die von Direktwahlen via Internet gesteuert wird, und bei der Abgeordnete und Mandatsträger jederzeit von einer Mehrheit wieder abgerufen werden können. Dass die heterogene, euroskeptische Bewegung von Grillo und seinem Mitstreiter Davide Casaleggio gleichsam diktatorisch von oben geführt wird, gehört zu ihren inneren Widersprüchen. Auch dass es im Inneren der Cinque Stelle, die bereits in Städten wie Rom und Turin regiert, ziemlich hoch her geht und die Fetzen fliegen.

Aber anders als in anderen Ländern gehört der antielitäre Hauptakteur keinem rechts-populistischen Lager an, wie es in Italien etwa von der Lega Nord besetzt wird, die sich jetzt landesweit ausbreiten möchte. Das ganze „politische Sammelsurium“ von links bis rechts, so Grillo in seinem Populismus 2.0, gehöre weggeklickt.

Italien war immer schon ein bisschen anders als andere Länder.

 

Der Text ist in leicht gekürzt auch auf ZEIT-Online erschienen: