Vor 50 Jahren schlugen elf „azzurri“ im Halbfinale der Fußball Weltmeisterschaft in Mexiko die „panzer“ aus der Bundesrepublik Deutschland und lösten ein Aufflammen nationalen Stolzes aus
Mailand – Wie verhält sich Italien zu Deutschland? In Zahlen ausgedrückt vier zu drei. 4:3 gewann Italien am 17. Juni 1970 – vor 50 Jahren also – das Halbfinalspiel bei der Fußballweltmeisterschaft im Aztekenstadion von Mexiko City nach Verlängerung. Der Schriftsteller Alessandro Baricco war damals gerade zwölf Jahre alt und lag bereits im Bett, als es nach 90 Minuten 1:1 stand und die Verlängerung begann. Sein Großvater, bei dem Baricco gerade die Ferien verbrachte, weckte ihn, ein nationales Ereignis bahnte sich an. Das einzige Mal, erinnert sich der Turiner Erfolgsautor, dass jemand ihn zuvor mitten in der Nacht aus dem Bett geholt und vor den Fernseher geschleppt hatte, war, als der erste Mensch den Mond betrat.
Zum 50. Jahrestag gibt es jetzt kaum ein Medium, das daran nicht erinnert. Mehrere Bücher sind erschienen. Zum Beispiel von Maurizio Crosetti 4 a 3. Italia – Germania 1970, La partita del secolo (Harper Collins Italia, Milano), der die Geschichte des Spiels – das bis zur Verlängerung eigentlich ziemlich langweilig war – mit Erinnerungen an Spieler aber auch mit denen vieler Fernsehzuschauer mischt.
Der Soziologe Nando dalla Chiesa hatte bereits zum 30. Jahrestag ein kleines Buch über La partita del secolo veröffentlicht, das jetzt im Verlag Solferino (Milano) wieder aufgelegt wurde. Das Spiel war auch das erste nationale Fernsehereignis, nachdem, ausgelöst durch das italienische „Wirtschaftswunder“ der sechziger Jahre, viele Haushalte einen Fernseher besessen hatten. Und wer keinen hatte, wurde an diesem Abend von den Nachbarn eingeladen. 4:3 und dann? Dann rannte halb Italien auf die Straßen und Plätze, Linke und Rechte umarmten sich, alte Leute hatten Tränen in den Augen und die Jungen feierten ausgelassen.
Eine zivile, eine kulturelle Revanche
Was war geschehen? Deutschland war – sportlich – besiegt worden durch eine bessere, ausgerechnet durch eine italienische Mannschaft. Aber das war mehr als ein sportlicher Sieg. Deutschland, das reiche Westdeutschland, das war ein wirtschaftlich potentes Land, in das die Italiener fahren mussten, um Arbeit zu finden, während die Deutschen nach Italien kamen, um Urlaub zu machen. Das sei keine Fußball-Revanche gewesen, sagte Nando dalla Chiesa im Gespräch, „sondern eine zivile, eine kulturelle Revanche“.
Der neapolitanische Anthropologe Marino Niola hat das Spiel und die anschließenden Siegesfeiern gerade im Magazin der Tageszeitung Repubblica il venerdì „la coda agonistica della Resistenza“ genannt, frei übersetzt: „den wettkämpferischen Abspann der Widerstandsbewegung“. Es sei die endgültige „Abrechnung mit den Deutschen“ gewesen, siegreich abgeschlossen durch den Treffer des „Partisanen Gianni“ (Rivera), der das „Tor der Befreiung“ schoss. Das 4:3 löste eine Aufflackern nationalen Stolzes aus. Es war das erste Mal, dass sich eine Feier über einen Fußballsieg in ein Volksfest verwandelte. Eines, dass sich so nie wiederholen würde, auch nicht beim WM-Sieg 1982 in Spanien, diesmal im Endspiel gegen die „panzer“.
Niola erinnert in seinem Artikel aber auch daran, dass diese Art von Patriotismus leicht in Defätismus umschlagen kann. Das Verhältnis der Italiener zu ihrer Nation spiegele sich im Fanverhalten wieder. In einem vorwiegend städtisch und lokal geprägten Land genieße nur die jeweilige Vereinsmannschaft „übertriebene und unteilbare Liebe“. Während die Mannschaft, die die nationale Einheit repräsentiere, sich diese Zuneigung von Spiel zu Spiel erkämpfen müsse.
Und wehe, sie verliert.
Hier zum Video auf Sporthistory