Der Roman „Schwarze Seelen“ von Gioacchino Criaco beschreibt den kriminellen Lebensweg von drei Freunden zwischen einer Ortschaft in Kalabrien und Mailand. – Ein Lokaltermin
Africo (Provinz Reggio Calabria) – Es geht über Stock, Stein und Gestrüpp. Dann wird der Blick frei auf ein Ruinendorf 800 Meter hoch im Aspromonte gelegen. Gioacchino Criaco bleibt stehen und sagt: „Hier.“ Diese Landschaft hier ist das Herz von allem. Auch das Herz einer kruden Geschichte, die Criaco in dem Roman „Schwarze Seelen“ erzählt. Die Geschichte handelt von drei Freunden aus der Locride, einem unterentwickelten Landstrich an der ionischen Küste von Kalabrien. Bereits als Jugendliche geraten sie in den 1970er Jahren auf die schiefe Bahn und führen ein Doppelleben. Wohlerzogen gehen sie zur Schule. Obgleich Kinder armer Leute, besuchen sie ein Gymnasium. Zugleich beschaffen sie sich mit der Beute von kleineren Raubüberfällen Waffen, um größere Raubüberfälle auszuüben. Oder sie helfen Eltern und Verwandten bei kaltblütigen Entführungen von Personen, die gegen ein Lösegeld wieder freigelassen werden – und manchmal auch nicht. Sie versuchen jedoch, sich bis zum bitteren Ende von denen fern zu halten, die in mächtige Organisationen eingebunden sind. Auch wenn das Wort ’Ndrangheta, wie die kalabresische Mafia genannt wird, in dem Roman „Schwarze Seelen“ von Gioacchino Criaco nicht fällt, weiß man doch, wer gemeint ist: „Wir entschieden uns dafür, in Freiheit, aber bewaffnet zu leben, bereit, uns zu verteidigen und anzugreifen. Ehrenmänner und Bullen waren gleichermaßen unsere Feinde.“
Kühl wie ein Chronist, aber dennoch als Beteiligter, berichtet der Ich-Erzähler von Luigi , Luciano und sich selbst. Die Freunde begehen Verbrechen, wie gewöhnliche Leute Einkäufe machen. Ein Menschenleben zählt dabei nichts. Was zählt, ist Unabhängigkeit und Reichtum. Reich werden die drei, als sie nach Mailand gehen und in den Drogenhandel einsteigen. Wir lesen keine Abenteuergeschichten einer Bande von italienischen Robin Hoods, sondern eine brutale Kriminalstory von jederzeit zu Gewalt bereiten Typen. Ihre Gemüter sind vergiftet, es sind „anime nere“ – „schwarze Seelen“. Der Ich-Erzähler bewertet die Handlungen mit keinem Wort, Moral ist ihm fremd, ihm genügt die Kette der Delikte, das nackte Böse, das für sich spricht. Denn hinter dem unermesslichen Reichtum, den die schwarzen Seelen anhäufen, lauert die Katastrophe: Verrat, Gefängnis, Tod.
Wie aus Rebellen Verbrecher werden
Der Autor weiß, wovon er spricht. Gewiss, die Personen sind erfunden, die meisten Ereignisse ebenso. Die Umstände jedoch nicht. Gioacchino Criaco wurde 1965 in Africo geboren, einem Dorf, das gleichsam aus den Bergen ans Meer gerutscht ist. Denn wenige Jahre vor seiner Geburt wurden die Einwohner vom 800 Meter hoch im Aspromonte gelegenen alten Africo umgesiedelt, nachdem einige Häuser des Ortes bei einer Überschwemmung zerstört worden waren. Der wilde Bergfluss Aposcipo war über die Ufer getreten und hatte mitgerissen, was nicht niet- und nagelfest war. Den Hirten und Bergbauern bot man durch die Umsiedlung an der Küste längst der Staatsstraße 106 vielleicht eine geologisch sicherere Heimat, beraubte sie aber zugleich ihrer natürlichen Umwelt und ihrer traditionellen Arbeit. Criaco sagt im Gespräch: „Wir waren nicht mehr in den Bergen, wir waren keine Fischer, wir waren nichts mehr.“
Die „Africoti“, wie die Einwohner genannt werden, galten Jahrhunderte lang als ein rebellisches Volk. So wie es etwa Corrado Alvaro in seiner berühmten Erzählung „Die Hirten vom Aspromonte“ (1930) beschrieben hatte. Criaco vermutet, dass die Umsiedlung auch das Ziel hatte, diese unberechenbaren Bergbauern besser kontrollieren zu können. Doch machte man so aus Rebellen Verbrecher.
Eine Peripherie der Peripherie
Vorbilder gab es in Kalabrien zu Genüge, wo allein die Emigration ein zulässiges Mittel war, der Arbeitslosigkeit und der Armut zu entkommen. Schnelleren Wohlstand versprach der Weg in die Kriminalität. In ihrer organisierten Form hatte sie bereits die Gesellschaft und die politischen und öffentlichen Strukturen Süditaliens vergiftet, was zu einer dauerhaften Unterentwicklung ganzer Regionen führte. Der wirtschaftlich-soziale Graben, der etwa die Lombardei von Kalabrien trennt, ist größer als der zwischen Deutschland und Griechenland. Selbst die Mafia macht inzwischen ihre Hauptgeschäfte in Norditalien und im Ausland –
auch in der Schweiz und in Deutschland. Das Heimatgebiet dient als Raum für den sicheren Rückzug, das aber nur kontrolliert werden kann, wenn es unterentwickelt bleibt. Eine Peripherie der Peripherie.
Africo Nuovo, das wegen mafiöser Unterwanderung des Gemeinderates im Jahr 2016 wieder einmal von einem Regierungskommissar notverwaltet wird, bietet mit seinen dreieinhalb Tausend Einwohnern nur ein besonders krasses Beispiel für diese Verhältnisse. Der Mailänder Journalist Corrado Stajano hatte 1979 nach einer langen Recherche bei Einaudi ein Buch über Africo veröffentlicht, das gerade wieder aufgelegt worden ist. Kaum etwas hat sich seitdem verändert. Nach wie vor finden in diesem heruntergekommenen Nest nur wenige Glückliche eine feste Anstellung etwa bei der Forstverwaltung. Die Jugendarbeitslosigkeit übersteigt 70 Prozent. Und im Nachbarort Bianco kann sich der zweite Bürgermeister nach Morddrohungen nur noch mit einer Leibwache in der Öffentlichkeit zeigen. Wenn man allerdings die Augen schließt, vermischt sich der Geruch von Kaminfeuer mit dem Duft von Mimosen, und nicht weit entfernt rollen kräftige Wellen ans Ufer.
Die Wahrheit über irregeleitete Jugendliche
Gioacchino Criaco beschreibt mit seinem Freundestrio aus Africo eine Unterweltkarriere, die er leicht selbst hätte einschlagen können. Der Familienname Criaco taucht in der Kriminalgeschichte öfters auf, wie man in dem Buch „Fratelli di sangue“ („Blutsbrüder“) von Nicola Gratteri und Antonio Nicaso (Mondadori) nachlesen kann. Der Vater kam bei einer Blutfehde ums Leben. Ein Bruder war bis zu seiner Festnahme einer der 30 meistgesuchten Kriminellen Italiens und sitzt heute wegen Mafiavergehen im Gefängnis.
Doch Gioacchino hatte Glück. Ein Begabtenstipendium führte ihn an die Uni Bologna, wo er Jura studierte. Anschließend lebte er 20 Jahre lang als Rechtsanwalt in Mailand. Mit dem Romanerstling „Anime nere“, der 2008 beim süditalienischen Verlag Rubbettino erschien, wollte er die Wahrheit „über viele irregeleitete Jugendliche erzählen.“ Und über die gesellschaftlichen Verhältnisse seiner Heimat. Nach Motiven des Romans hat der Regisseur Francesco Munzi 2014 an den Originalschauplätzen einen mehrfach preisgekrönten Film gedreht. Nördlich des Alpenkamms war er kurz in den Programmkinos zu sehen, ist aber als DVD weiter im Handel (zum Trailer: hier). Und das italienische Fernsehen plant jetzt eine Serie, die Dreharbeiten dafür sollen im Herbst beginnen.
Eine Hütte und kleine schwarze Schweine
Inzwischen hat Criaco die Juristerei an den Nagel gehängt und widmet sich ganz dem Schreiben. Gerade ist bei Feltrinelli ein neuer Roman („Il saltozoppo“ – „Der Hinkespringer“) erschienen. Der Autor lebt heute in Mailand und Africo. Mit Freunden möchte er dem alten Ort in den Bergen zwischen Kastanien- und Eichenwäldern wieder Leben einhauchen, ihn für Wanderer, Besucher, Aussteiger interessant machen. In der Nähe von Africo Vecchio haben der Autor und seine Freunde eine Berghütte mit Schlafmöglichkeiten ausgestattet. Kleine schwarze Wildschweine einer autochthonen Rasse umkreisen sie. Und manchmal muss ein Ferkel daran glauben, wenn Criaco hier oben Gäste zu einem deftigen Essen lädt, bei dem viel von dem lokalen Wein fließt.
Die Berghütte ist nach dem piemontesischen Philantrophen und Naturforscher Umberto Zanotti Bianco (1889 – 1963) benannt, der in Norditalien Geld sammelte, mit dem am Anfang des Jahrhunderts im alten Dorf Sozialeinrichtungen wie eine Schule und eine Krankenstation gebaut werden konnten. Der Aspromonte bildet ein phantastische, von wilder Natur geprägten bis zu 2000 Meter hohe Gebirgslandschaft. Und in der Ferne leuchtet das Meer mit seiner homerischen Weite.
„Schwarze Seelen“ ist ein mit Wut verfasstes Buch über Menschen aus der Locride und einen Landstrich gleichsam ohne Hoffnung und Zukunft. Angeblich hat es der Autor in nur wenigen Tagen runtergeschrieben. Im kalabresischen Dialekt erdacht, auf dem Papier ins Italienische übertragen, wie Gioacchino Criaco heute eingesteht. Ein Dialekt, dessen Grammatik keine Formen des Futur kennt. So als wenn hier selbst die Sprache zukunftslos erscheint. Herausgekommen ist ein Redefluss voller Zeit- und Perspektivwechsel, mit denen die Übersetzerin Karin Fleischanderl ihre liebe Mühe hatte. Doch ist es ihr glänzend gelungen, die Authentizität des Originals auch in der deutschen Sprache aufleben zu lassen.
Gioacchino Criaco: Schwarze Seelen. Roman. Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Folio Verlag, Wien/Bozen 2016. 229 Seiten, 22,90 Euro
In ähnlicher Form erschienen in der Neuen Zürcher Zeitung vom 8.4.2016
Siehe auch auf Cluverius „Unterwegs: In Africo“