„DIE TAV GEHÖRT SABOTIERT“


Der Autor Erri De Luca, sein Protest gegen Hochgeschwindigkeitsstrecken und die Einschränkung des Wortschatzes

Erri De Luca gegen die Hochgeschwindigkeitsstrecke TAV nach Lyon

Erri De Luca gegen die Hochgeschwindigkeitsstrecke TAV nach Lyon

Turin. Darf ein Schriftsteller öffentlich zur Sabotage des Baus einer Hochgeschwindigkeitsstrecke aufrufen? Der neapolitanische Autor Erri De Luca hat das in einem Interview mit der italienischen Ausgabe der Huffington Post und der Nachrichtenagentur ANSA getan: „La TAV va sabotata – Die TAV gehört sabotiert.“ TAV ist die Abkürzung der italienischen Bezeichnung für Hochgeschwindigkeitszüge („Treni ad Alta Velocità“). Gegen den Bau einer Trasse im Val di Susa (Piemont) protestieren seit Jahren Anwohner, Umweltschützer, Intellektuelle wie De Luca und unterschiedliche Aktionsgruppen unter dem Schlagwort „No TAV“ („Keine TAV“). Dabei ist es auch in Einzelfällen zu Gewaltanwendung von Demonstranten gekommen, wofür die Justiz den 64jährigen Schriftsteller verantwortlich machen will. Noch bevor der Prozess gegen ihn Ende des Monats in Turin wegen Anstiftung zur Begehung einer strafbaren Handlung beginnt, hat er bei Feltrinelli einen schmalen Band mit dem Titel „La parola contraria“ („Mein Wort dagegen“) herausgegeben, der jetzt in der Übersetzung von Annette Kopetzki auch auf Deutsch im Graf Verlag München erscheint (48 S., 3.99 Euro). Wobei es sich nicht um eine Verteidigungsschrift handelt: „In den Gerichtssaal gehe ich nicht, um mich zu rechtfertigen“, klärt De Luca seine Leser auf, „sondern, um mich gegen eine Zensur zu wehren, die eine Gegenrede aufs Abstellgleis schieben will.“ Anstifter will er gerne sein – aber für den Widerstand und „eine neue Gerechtigkeit“.

Umstrittene Trassenführung
Politik und Verwaltung wollen den Bau der Hochgeschwindigkeitstrasse, die über die Alpen nach Lyon führen soll und im Rahmen der europäischen Eisenbahnachse TEN 6 (Lyon-Turin-Triest-Budapest) geplant ist, dagegen zügig umsetzen. Die geplanten Kosten des Projektes von rund 8 Milliarden Euro für den Alpenabschnitt sind allerdings bereits auf rund 12 Milliarden gestiegen. Italien muss sich (neben Frankreich und der EU) statt mit 3 jetzt mit über 4 Milliarden Euro daran beteiligen – und das angesichts klammer Staatskassen. Die geplante Trasse der TAV läuft parallel zu einer traditionellen Eisenbahnlinie, die nach Ansicht der Kritiker der Bauarbeiten bei weitem nicht ausgelastet ist, sowie neben einer Autobahnstrecke und zwei Staatsstrassen. Die neue Linie würde das schmale Susatal unterhalb des spektakulären Bergklosters von San Michele noch weiter zerschneiden und Naturgrund vernichten. Anstoss wird auch an einem 57 Kilometer langen Tunnel zwischen den Tälern Susa in Italien und Maurienne in Frankreich genommen, der durch angeblich asbest- und uranhaltiges Gestein führt.

Das Grossunternehmen wird nicht nur von Erri De Luca (Petrarcapreisträger 2010), sondern auch von anderen Intellektuellen wie dem Kulturwissenschaftler Salvatore Settis und dem Philosophen Gianni Vattimo scharf kritisiert. Die meisten Medien berichten dagegen eher wohlwollend pro TAV. Die kritischen Intellektuellen sind für sie „cattivi maestri – böse Lehrer“. Neben friedlichem Protest der No-TAV-Bewegung vor allem unter den Anwohnern hat es in den vergangenen Jahren auch Aktionen von gewaltbereiten autonomen Gruppen sogenannter Anarcho-Ökologen gegeben. Kürzlich sind vier von ihnen in Turin in erster Instanz zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Vom Vorwurf des Terrorismus wurden sie jedoch frei gesprochen. Die Baustelle wird derweil „gleichsam militärisch“ (De Luca) von mehreren Hundertschaften der Polizei geschützt. No-TAV-Befürworter kritisierten immer wieder deren hartes Vorgehen auch gegen friedliche Demonstranten. Ausführendes Bauunternehmen ist die französische Firma LTF KG. Sie war es, die Erri De Luca wegen seiner Sabotage-Äusserungen bei der Justiz angezeigt hat.

Vom Recht auf Gegenrede
De Luca, der nicht nur von der Nutzlosigkeit und dem zerstörerischen Ausmass sondern auch von der Gefährlichkeit des Projektes (etwa für die Gesundheit der Bauarbeiter und Anwohner) überzeugt ist, besteht auf seinem Recht „zur Gegenrede“ – notfalls auch aus dem Gefängnis heraus. Und er erhebt Anspruch, das Verb „sabotieren“ so zu gebrauchen, „wie es der italienische Sprache beliebt.“ Nämlich nicht nur auf die Bedeutung materieller Schädigung beschränkt, wie die Staatsanwaltschaft behauptet. Es habe vielfältige Bedeutungen vor allem im Sinne von „behindern“. „Im Namen der italienischen Sprache und des gesunden Menschenverstandes“ lehne er jede „Einschränkung des Wortschatzes“ ab. Es hätte genügt, im Wörterbuch nachzuschlagen, „um die absurde Anzeige einer französischen Firma zu archivieren.“ Freunde habe zur Unterstützung eine Internetseite (www.iostoconerri.net – Ich stehe an Erris Seite) eingerichtet, die unter anderen vom Literaturnobelpreisträger Dario Fo, dem Slow-Food-Gründer Carlin Petrini oder von dem Bürgermeister von Neapel (und ehemaligen Staatsanwalt) Luigi De Magistris unterstützt wird. Turins Oberstaatsanwalt Giancarlo Caselli, der sich auch in der Bekämpfung von Terrorismus und Mafia einen Namen gemacht hat, warnt dagegen vor der „Unterschätzung“ der Vorgänge im Susatal durch einige Politiker und Intellektuelle. Ein Urteil wird Mitte Oktober erwartet

Auf der italienischen Seite ist von der gesamten TEN 6 Achse bislang nur der Abschnitt Turin-Mailand im Betrieb. An der Strecke Mailand-Venedig wird gerade gebaut. Protest wird im Hügelland bei Vicenza laut. Ein Tunnel würde 30 Meter unter der auch von Goethe bewunderten Barockvilla Valmarana ai Nani verlaufen, die mit Fresken von Giambattista Tiepolo und seinem Sohn Giandomenico geschmückt ist. Die Stabilität des Gebäudes wird bereits durch Erdrutsch gefährdeten Grund bedroht.

Erstveröffentlichung in kürzerer Form in der Neuen Zürcher Zeitung vom 27. Januar 2015

Nachtrag: Erri De Luca wurde am 19. Oktober 2015 frei gesprochen, weil, so das Gericht, keine strafbare Handlung vorliege.