Peter Kammerer:
Das Kommunistische Manifest, Bert Brecht und Pier Paolo Pasolini
Urbino – Das Kommunistische Manifest von Marx und Engels gehört zunächst einmal ganz einfach zur Weltliteratur: Nicht wegen der in allen möglichen Sprachen übersetzten, hohen Auflagen. Die Autoren wären steinreich geworden, hätten sie auch nur einen Teil der Tantiemen genießen können. Und auch nicht wegen der Folgen, über die man streiten kann. Sondern Weltliteratur, weil ein bedeutender Gegenstand, eine Philosophie der Geschichte, eine Summe von Erkenntnissen über die Entwicklung der modernen Welt, ihre adäquate sprachliche Form gefunden haben: aufwühlend, verständlich, einprägsam, schön. Sätze, die man von Mund zu Mund weitergeben kann, so wie Bert Brecht sagte: „Von den Antennen kommen die alten Dummheiten. Die Weisheit wird von Mund zu Mund weitergegeben.“
Aber, so kann man fragen, wenn dieser historische Text so schön zu lesen und zu hören sein soll, warum hat dann Brecht, der vor 60 Jahren im August 1956 starb, das Bedürfnis verspürt, ihn ausgerechnet in Hexameter zu setzen, die dann so klingen: „Kriege zertrümmern die Welt und im Trümmerfeld geht ein Gespenst um“. Dagegen beginnt das Original, wie alle wissen, mit dem berühmten Satz: „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus.“
Ein weiterer Vergleich. Brecht schreibt: „….den Klassikern aber ist die Geschichte zuvörderst Geschichte der Kämpfe der Klassen.“ Wo es im Manifest lapidar heißt: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen“.
Kein Buch für nachdenkliche Leser
Brecht will Ruhe und Distanz in das anfeuernde Pamphlet bringen, er will nicht behaupten, sondern erzählen. Sein Freund Hanns Eisler sah mit Skepsis, dass „unser Brecht jetzt das Kommunistische Manifest neuerdings kompliziert, indem er es in eine in der deutschen Poesie nicht sehr erfolgreiche Form, nämlich den Hexameter setzt.“ Nach 400 Versen und mehreren Anläufen gab Brecht seinen Plan auf, durch formale Verkomplizierung Nachdenken zu erzeugen. Und so blieb das Manifest bis heute für Freund und Feind ein Steinbruch für Schlagwörter und ein rotes Tuch, und wurde kein Buch für nachdenkliche Leser.
Stefan Hermlin erzählt in seinem Buch „Abendlicht“ eine seltsame Leseerfahrung. Längst glaubte er den Text in- und auswendig zu kennen, auch jenen fulminanten Schluss des zweiten Teils, der in Hermlins Bewusstsein lautete: „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen- und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung aller die Bedingung für die freie Entwicklung eines jeden ist“. Zu seinem Entsetzen fand er eines Tages, dass der Satz in Wirklichkeit umgekehrt lautet: „…worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ Eine unheimliche Entdeckung für einen Altkommunisten.
Pasolini erbleicht
Antikommunisten bleiben solche Überraschungen erspart. Sie verpassen damit aber auch jenes Hohe Lied auf die Schaffung des Weltmarkts durch die Bourgeoisie, das bis heute oder gerade wieder im Rahmen der Globalisierungsdebatte als besonders aktuell empfunden wird. In den „Freibeuterschriften“ paraphrasiert Pasolini den Abschnitt: „Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen, in die Zivilisation. … Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem Bilde“.
„Die Bourgeoisie hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen, als alle vergangenen Generationen zusammen.“ Pasolini erbleicht vor dieser Explosion von Reichtum wie vor dem Haupt der Medusa. Marx und Engels, wesentlich jünger und optimistischer, fragen sich, wie die Menschen diese materielle Fülle bewältigen sollen, d.h. unter welchen Bedingungen ein menschenwürdiges Leben FÜR ALLE möglich ist. Denn auch das sehen sie: „Die kapitalistische Produktion entwickelt die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.“ Planet entwickelt, Natur und Mensch kaputt. Es ist eigentlich unfassbar, dass zwei junge, noch nicht dreißigjährige Propheten, die von der Polizei aus Deutschland vertrieben waren, an der Schwelle der Industrialisierung bis an den Kern unserer heutigen Probleme vorgestoßen sind.
Der theologische Glutkern der Revolution
Und was schlagen die Beiden konkret vor? Ihr unmittelbarer Forderungskatalog, der vor 150 Jahren für eine sofortige Verhaftung gut war, wirkt heute weitgehend harmlos, zumindest in Demokratien: progressive Einkommenssteuer, unentgeltliche Erziehung, allmähliche Beseitigung des Unterschieds von Stadt und Land, Zentralisation des Transportwesens und des Kredits in Staatsregie und Errichtung einer Bundesbank. Abschaffung des Erbrechts, Enteignung des privaten Grundbesitzes und allgemeiner Arbeitszwang sind schon umstrittener. Doch für ein kommunistisches Manifest, das die halbe Welt in Aufregung versetzt hat, sind das sehr manierliche Vorschläge. Und wir wissen heute, dass sie völlig unzureichend sind, dass andere Dinge nötig sind, will man den Planeten in Frieden und bewohnbar halten.
Dieses Ziel setzt sich auch das Manifest- was die Lektüre dieser Schrift auch heute noch subversiv macht. Denn in ihr steckt das, was Walter Benjamin, den „theologischen Glutkern der Revolution“ genannt hat, die Kraft einer Zukunftshoffnung, die sich weder in Hexametern, noch in Parteiprogrammen fassen lässt.
* Peter Kammerer, emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Urbino. Übersetzt u.a. Pasolini, Gramsci und (zusammen mit Graziella Galvani) Heiner Müller ins Deutsche. Zusammen mit Enrico Donaggio (Universität Turin) bereitet er eine Neuausgabe der italienischen Übersetzung des Kommunistischen Manifestes für den Feltrinelli Verlag (Mailand) vor.