EINE GIFTIGE WEISSLICHE WOLKE


Vor 40 Jahren – das Dioxin-Unglück von Seveso

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Entstellt von Chlorakne – Kind in Seveso 1976

Seveso – Bei einem Unglück in einer Chemiefabrik in Norditalien wurde vor vierzig Jahren das hochgiftige Dioxin frei gesetzt. Betroffen waren Bewohner vor allem der Ortschaft Seveso und Nachbargemeinden unweit von Mailand. Ein chaotisches Krisenmanagement während der ersten Tage nach dem Unglück, als Unternehmen und Behörden die Folgen herunter spielten, verzögerte Hilfe. Schließlich mussten Hunderte von Menschen evakuiert werden. Chlorakne entstellte die Gesichter von Kindern und bis heute bleibt die Angst vor gesundheitlichen Spätfolgen. Der Vorfall, der weltweites Aufsehen erregte, führte zu einer EU-Bestimmung, die unter dem Namen „Seveso-Richtlinie“ zur Beherrschung von Gefahren bei schweren Unfällen mit gefährlichen Stoffen dienen soll.

Der Gestank wie von faulen Eiern

Es ist warm an diesem Sonnabend Vormittag den 10. Juli 1976. In der Brianza, einem industriell geprägten Landstrich rund 20 Kilometer nördlich von Mailand, denken die Bewohner bereits an die kommenden Sommerferien. Kinder spielen auf den Straßen oder in den Gärten, aus denen auch viele Arbeiterinnen und Arbeiter der Fabriken zwischen den Orten Meda, Seveso oder Cesano Boscone sich mit Obst und Gemüse versorgen. Wäsche trocknet in der Sonne. Am Ortsrand von Meda, wo die Gemeinde an die von Seveso grenzt, liegt die Chemiefabrik Icmesa – ein Unternehmen der Schweizer Gruppe Givaudan, die wiederum zum Konzern Hoffman La Roche gehört. Bei der Icmesa werden unterschiedliche Substanzen produziert, die unter anderem zur Herstellung von Kosmetika wie von Desinfektionsmitteln dienen.

Maurizio Zilio ist damals 24 Jahre alt und Facharbeiter einer Maschinenfabrik. Er erzählt: „An diesem Samstag ging mein Cousin am Nachmittag nach Meda und kam an der Icmesa vorbei. Und berichtete, dass es penetrant nach faulen Eiern gerochen habe. Aber wir wussten nicht, was los war und dachten uns weiter nichts dabei.“

Was Maurizio und die Anwohner nicht ahnen: Als am Ende der Nachtschicht am Samstag Morgen die Anlage herunter gefahren wird, kommt es auf Grund von Wartungsfehlern zu einem dramatischen Anstieg der Temperatur in einem Reaktionskessel. Die Folge ist ein unkontrollierter Anstieg des Kesseldrucks. Um 12 Uhr 27 entlädt sich der Überdruck über ein Sicherheitsventil ungefiltert in die Umwelt. La Roche hatte aus Kostengründen auf ein Auffanggefäß für ein Explosionsentlastungsrohr verzichtet. Eine halbe Stunde lang entweicht ein Gasgemisch, das eine giftige weißliche Wolke bildet und über Gärten und Kanäle nach Seveso zieht.

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Chaotische Aufräumarbeiten

Über das Ausmaß und die Folgen des Unglücks lässt die Firmenleitung die Anwohner zunächst völlig im Unklaren: „Man sagte uns nur“, so Maurizio, „wir sollten möglichst keine Gartenfrüchte essen und uns immer die Hände waschen.“

Ein Gas, das im Vietnamkrieg zum Einsatz kam

Doch die Wolke enthält eine hochgiftige Substanz: TCDD oder vereinfacht Dioxin genannt. Es kann bei überhöhten Temperaturen als Nebenprodukt bei der Herstellung von Desinfektionsmitteln entstehen. Ein Gift, das im Vietnamkrieg unter dem Namen Agent Orange als Entlaubungsmittel eingesetzt worden war und zu schweren Verletzungen sowohl der Bevölkerung als auch von US-Soldaten geführt hatte. Doch die Bevölkerung in Seveso und Umgebung wird tagelang im Ungewissen gehalten.

Bald verlieren Bäume und Sträucher ihre Blätter. Haustiere verenden. Ärzte stehen ratlos vor der Chlorakne, einem aggressiven, ihnen unbekannten Hautausschlag, der vor allem Kinder betrifft. Angst macht sich breit, die Arbeiter der Icmesa streiken. Erst acht Tage nach dem Unglück wird die Fabrik geschlossen und das verseuchte Gebiet evakuiert. Alberto Colombo ist damals 15 Jahre alt. „Dann kamen die Soldaten. Ich erinnere mich noch gut, wie sie um die Fabrik einen Drahtverhau errichteten, um den Zugang zu verhindern.“

Auch Schulen wurden geschlossen

Betroffen sind auf 108 Hektar Boden der sogenannten Zone A vor allem Teile der Gemeinde Seveso mit 204 Familien, 37 Klein- und drei Industrieunternehmen, mehreren Geschäften sowie einem landwirtschaftlichen Betrieb. Um das evakuierte Gelände wird die Zone B eingerichtet, in der man Schutzmaßnahmen anordnet. Ein weiterer Gürtel, die Zone C, kommt unter Beobachtung. Alberto erinnert sich an die Konfusion im Ort: „Zum ersten Mal betraf ein Industrieunglück mit einem Giftstoff wie dem Dioxin nicht nur die Arbeiter einer Fabrik, sondern die ganze Bevölkerung. Auch Schulen wurden geschlossen.“

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Ein Eichenwald heute auf dem ehemals verseuchten Gelände

Man rät schwangeren Frauen aus Furcht vor möglichen Missbildungen zur Abtreibung. Die Bewohner, die Haus und Hof verlassen müssen, werden teilweise wie Aussätzige behandelt. Wer in den Urlaub fährt erzählt noch Jahre später im Hotel lieber nicht, dass er aus Meda, Seveso und Umgebung stammt. Auch wenn sich die schlimmsten Befürchtungen über die langfristigen Auswirkungen des Dioxins in den folgenden Jahrzehnten nicht bestätigt haben, liegt doch der Anteil etwa von Tumor- wie von Gefäßerkrankungen bei der Bevölkerung der Zone A höher als in der restlichen Brianza.

40 Jahre danach

Die Verantwortlichen des Chemieunternehmens wurden nach langen Verfahren nur wegen Fahrlässigkeit verurteilt und ihre Strafen zur Bewährung ausgesetzt. In außergerichtlichen Verfahren entschädigte die Givaudan-Gruppe die Region Lombardei und den italienischen Staat finanziell mit umgerechnet rund 50 Millionen Euro. Dazu flossen Gelder für die einzelnen Gemeinden, Seveso erhielt etwa 7,5 Millionen Euro.

Das Gelände wurde aufwendig saniert, Gebäude abgerissen und der Boden abgetragen. Auf dem weitaus größten Teil der Zone A, der in Seveso liegt, ist ein Park entstanden, der „Bosco delle querce“ (Eichenwald). Informationstafeln erinnern an die Katastrophe. An der Stelle der Unglücksfabrik findet man heute ein Sportzentrum. Alberto Colombo, der als Vertreter einer Umweltpartei im Stadtrat von Meda sitzt, führt auf einen kleinen Hügel, der direkt neben dem ehemaligen Firmengelände liegt. „Genau unter unseren Füßen befindet sich eine luft- und wasserdicht abgeschlossene Wanne. Darin lagern verseuchte Rückstände des Unglücks der Icmesa.“

Keine zwanzig Meter weiter rauscht eine Schnellstraße vorbei. Die soll jetzt verbreitert und zu einer Autobahn ausgebaut werden. Umweltschützer laufen Sturm gegen die Pläne. Sie fürchten, dass sich unter der Oberfläche noch verseuchte Stellen befinden und bei den Arbeiten wieder Dioxin freigesetzt werden könnte.

 

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Ausführliches Material (in italienischer Sprache) findet man auf http://www.boscodellequerce.it

Jörg Sambeth, einer der Verantwortlichen des Unglücks, hat von Schuldgefühlen geplagt, einen spannenden Tatsachenroman im Unionsverlag (Zürich) unter dem Titel „Zwischenfall in Seveso“ veröffentlicht.

Auf YouTube kann man den eindrucksvollen TV-Film von Sabine Gisiger „Gambit – Neue Wahrheiten über Seveso“ (HR 2008) abrufen, in dem Sambeth in einem langen Interview auch die Namen der Schuldigen nennt, die er im Buch noch verschweigt.

Siehe auch den Beitrag in der Rubrik „Kalenderblatt“ des Deutschlandfunks  „Chaotisches Krisenmanagement und seine Folgen“ von 10.7.