Italien diskutiert den neuen Roman „Bruciare tutto“ von Walter Siti über einen pädophilen Priester. Widerwärtig, ein klassisches Problem der Ethik oder einfach nur eine anachronistische Debatte?
Mailand – In den italienischen Blättern findet man auf den Seiten der Literaturkritik selten Verrisse. Eine Ausnahme machte jetzt die Tageszeitung la Repubblica, die die Veröffentlichung des jüngsten Romans von Walter Siti „Bruciare tutto“ („Alles verbrennen“) zu einem „Fall“ erklärt. Die Philosophin Michela Marzano nennt Sitis Buch in ihrer Kritik „inakzeptabel“, weil es „spekulativ“ und „zynisch“ mit dem Thema Kirche und Pädophilie umgehen würde (siehe hier). Kaum war der Artikel am 13. April erschienen, brach in den Blättern wie im Web eine Debatte pro und contra Siti (und pro und contra Marzano) los, die auch über die Osterfeiertage anhielt.
Walter Siti, Literaturwissenschaftler und Autor von lyrischen und erzählerischen Texten, stammt aus Modena und lebt in Mailand. Bei Mondadori hat er in der Reihe I Meridiani die kritische Ausgabe der Schriften Pasolinis herausgegeben. In seinen Romanen spiegelt Siti soziale Verhältnisse oft durch homosexuelle Beziehungen. Der heute 70jährige gewann 2013 den Premio Strega mit dem Roman „Resistere non serve a niente.“
Eine göttliche Prüfung?
Im neuen Buch „Bruciare tutto“ geht es um einen katholischen pädophilien Priester. Auch wenn der letzte sexuelle Kontakt weit in seiner Vergangenheit liegt und bevor er zum Priester geweiht wurde, kann Don Leo nicht umhin, jedes mal daran zu denken, wenn er einen Jungen sieht. Die Handlung spitzt sich zu, als ihm Andrea zur Pflege übergeben wird. Don Leon gelingt es, der Versuchung zu widerstehen, obgleich sich ihm der Junge von sich aus sexuell anbietet. Vom Priester zurückgestoßen nimmt sich der seelenwunde Andrea das Leben. Don Leo, der zuerst geglaubt hatte, eine göttliche Prüfung bestanden zu haben, zweifelt nach dem Tod des Jungen an Gott, den er mit wüsten Worten beschimpft.
In ihrer Kritik unterstreicht Michela Marzano die ambivalente Haltung des Autors und dessen Schlussfolgerung: „besser von Gott verdammt, als selber töten, lieber ein Pädophiler als ein Mörder.“ Und sie fragt: „Ist das Literatur?“ Während in vielen Internetbeiträgen Siti der Verherrlichung von Pädophilie beschuldigt wird, werfen andere Marzano vor, literarische Zensur auszuüben. Ein „widerwärtiger Roman“ kommentiert die Tageszeitung Il Foglio, das Intelligenzblatt der italienischen Rechten. Die Internetzeitschrift Linkiesta wirft der Kritikerin vor, den Autor mit dem Erzähler sowie Realität und Fiktion zu verwechseln. Das Berlusconi-Blatt Il Giorno spricht von Stereotype, die sich als „hohe Literatur maskieren“. Der liberale Corriere della Sera fragt sich, ob Literatur das Böse fürchten muss und erinnert an Dostojewski oder Nabokov. Heute darüber noch zu diskutieren, sei „anachronistisch“ stellt dagegen Goffredo Fofi, der Doyen der italienischen Kulturkritik, fest.
Ein klassisches Problem der Ethik?
Der Schriftsteller Nicola Lagioia, Leiter des Turiner Salone del Libro, erinnert daran, dass Siti ein klassisches Problem der Ethik aufgegriffen hat: wie handeln, wenn man nur die Wahl zwischen zu verdammende Alternativen hat? Aldo Busi, der in der Vergangenheit mit seinen homosexuellen Romanenhalden immer wieder Tabus gebrochen hatte, ließ lakonisch wissen: „Soweit ich begriffen habe, geht es um einen Priester, der deswegen Gewissensbisse hat – aber ich lese keine Sciencefiction-Romane.“