Der Politiker und marxistische Theoretiker Pietro Ingrao, der am 27. September 2015 in Rom im Alter von 100 Jahren gestorben ist, prägte als Widerstandskämpfer und Mitglied der kommunistischen Partei die Geschichte der italienischen Arbeiterbewegung. Von 1976 bis 1979, den Jahren unter anderen der Moro-Entführung, saß er als Präsident der Abgeordnetenkammer vor. Eine Würdigung von Peter Kammerer
“Volevo la luna” heißt der Lebensbericht, den Pietro Ingrao (1915-2015) im Jahre 2006 veröffentlicht hat. Ein vieldeutiger Titel in einer Sprache, die mit dem Mond wechselhafte Gemütszustände, Unmögliches und Illusionen verbindet. Er erinnert an Lucio Magri`s “Der Schneider von Ulm”, in dem erstmals umfassend Höhenflug und Absturz der italienischen Kommunisten analysiert wird. Ein zu früh unternommener Versuch der Menschheit zu fliegen? Ingrao berichtet von der Faszination des „Unmöglichen“, vom langen Anlauf einer Jugend unter dem Faschismus, von der Resistenza, vom Aufbau einer Demokratie, der nicht die kapitalistische Manipulation, wohl aber die Irrwege des orthodoxen Kommunismus erspart geblieben sind. Aber wie fast alle Erinnerungen der großen kommunistischen Intellektuellen Italiens enden auch diese Memoiren abrupt in den 70er Jahren mit dem “Historischen Kompromiß” und der Ermordung Moro`s (1978). Der Absturz der Kommunistischen Partei und seine Folgen werden nicht thematisiert. Doch was ist in den Jahren zuvor und in den 25 Jahren, die folgten, mit den Menschen in Italien passiert? Was verbirgt oder beleuchtet der Mond, der Gedankenfreund und “stille Gefährte der Nacht”?
„Das Schweigen der Kommunisten“
Einen Versuch, auf diese Fragen zu antworten, machten Vittorio Foa, Miriam Mafai und Alfredo Reichlin in einem Briefwechsel, der 2002 bei Einaudi erschienen und von Luca Ronconi als Theaterstück inszeniert worden ist. „Das Schweigen der Kommunisten“ hat viele Gründe, unter denen uns Verlegenheit und Opportunismus nicht zu interessieren brauchen. Schwerer wiegt die Vermutung Reichlins, dass die ehemals kommunistische Linke schweigt, weil sie keinen Schlüssel hat, um die Gegenwart zu verstehen. Im Epochenbruch zwischen dem, was war und dem, was noch nicht ist, werden die Überlebenden zu Einzelgängern und hamletischen Figuren.
Das Schicksal von Pietro Ingrao hätte sich auf diese Weise erfüllt, wäre da nicht seine menschliche Energie gewesen, die ihn antrieb, die Gründe des Niedergangs zu erforschen. Zu den grundlegenden Dokumenten dieser Anstrengung gehört sein Brief an Rossana Rossanda vom 20. Mai 1994 („Appuntamenti di fine secolo “, Manifestolibri, Roma, 1995, S. 93 ff.). Weltweite Phänomene, die Globalisierung und Informatisierung, hätten der traditionellen Arbeiterbewegung, von den Kommunisten bis zur Sozialdemokratie, den Boden entzogen. Am sichtbarsten in den Ländern, die mit der Erneuerung des Kapitalismus nicht mithalten konnten.
Die Beziehung zwischen Politik und Leben zerbricht
„Der größte Irrtum (in den wir vielleicht alle verwickelt sind) war der, die Bedeutung dieser Mutation der produktiven Strukturen nicht erfasst zu haben“. Vom Nationalstaat garantierte, soziale Pakte, die die kapitalistische Verwertungslogik bisher eingeschränkt hatten, wurden obsolet. Soziales Dumping, Prekarisierung, neue Technologien und die Finanzialisierung revolutionierten „die Art des Wissens und die sozialen Figuren im Produktionsprozess, die Möglichkeiten ihrer Aggregation und politischen Organisation“. Sie zerstörten, Ingrao wagt den Begriff, die „Identität“ des kollektiven Subjekts in seinem Kampf um Autonomie gegenüber dem Kapital. Am Ende dieses komplexen Prozesses dann die Erfahrung: „Die Beziehung zwischen Politik und Leben zerbricht“. Es ist wohl der dramatischste Satz in diesem Buch kluger Analysen, der andeutet, warum ein Leben in der Arbeiterbewegung bereits in den 70er Jahren zu Ende ging.
Um der Einheit willen
Doch was für ein Leben! Aufgewachsen (und begraben) in Lenola bei Formia. Abitur 1933. Studium in Rom, wo sich in den faschistischen Institutionen eine Generation traf, die sich zuerst am Verhältnis zur großen Literatur bis Joyce und Kafka und am Verhältnis zum amerikanischen und sowjetischen Film erkannte, die, angeregt von jüdischen Emigranten (z.B. Rudolf Arnheim) gierig aufnahm, was in Deutschland verbrannt wurde. Der faschistische Putsch in Spanien 1936 wurde für sie zur Notwendigkeit, ihre ästhetische Leidenschaft dem Primat der Politik zu opfern. Für Leben und Politik galt von nun an: „wir handelten, um zu sein“. Ein halbes Jahrhundert verging, bis Ingrao wieder als Dichter in Erscheinung trat. In diesem halben Jahrhundert stand er, vor allem nach dem Tode Togliattis (1964), für den „Traum von einer Sache“, immer in der Parteiführung, immer in der Minderheit, immer im Gegensatz zu Giorgio Amendola, der als der große „Realo“ und Chef des Apparats den Kurs der Partei prägte. Doch Ingrao hat, bis zur Selbstauflösung des PCI (im Februar 1991), alle Fehler der Partei um der „Einheit“ willen mitgetragen.
Der entscheidende Fehler, auf den nicht nur nach Ansicht Ingrao`s, alle weiteren zurückzuführen sind, war der Ausgang des XI. Parteikongresses (1966). Togliatti war tot. Er selbst hatte in seinem Testament neue Wege gewiesen. Nun forderte Ingrao Transparenz und innerparteiliche Demokratie. Filmaufnahmen zeigen die von ihren Sitzen aufgesprungenen Delegierten, einen nicht enden wollenden Beifall und eisiges Schweigen des Präsidiums. Ein Angriff auf die Partei! Magri, Natoli, Pintor, Rossanda wurden als „Anhänger Ingraos“ isoliert oder aus ihren Ämtern entfernt. Sie versuchten, zunächst mit Billigung von Ingrao, ihre Themen in einer neuen Zeitschrift, Il Manifesto, weiter zu entwickeln: Kritik an einer monolithischen Auffassung der Partei, an der Art ihres Führungsanspruchs gegenüber den Massen, an der Sowjetunion! Im Dezember 1969 wurden sie aus der Partei ausgeschlossen. Mit Billigung von Ingrao, im Namen der „Einheit der Partei“.
Fähig, neue Horizonte zu entdecken
Dies und alles weitere, „das Nachgeben Berlinguers im Historischen Kompromiß, die kulturelle Hegemonie Amendolas, die Rechtsentwicklung der Partei“ hat seinen Ursprung 1966. Auch die Blindheit gegenüber der sich anbahnenden Mutation des Kapitalismus. Im Jahre 1991 hat sich Ingrao, wieder unter dem Beifall der Delegierten, der Auflösung des PCI widersetzt. Und wieder beugte er sich dem Beschluss, um den kollektiven Blick auf den Horizont des Kommunismus nicht zu verlieren. Erst 1993 ist er aus der Pds, der Nachfolgepartei des PCI, ausgetreten. Als einziger der alten Führungsgruppe hat er verstanden, bis in welche Tiefenstrukturen der menschlichen Gemeinschaft der Kapitalismus vorgedrungen ist. Daher sein Interesse für den Feminismus und die ökologische Bewegung. Der erzwungene Abschied von einem Leben, das in der Politik völlig aufgegangen war, machte ihn fähig, neue Horizonte zu erkennen.
Der Beitrag ist zuerst erschienen in: Das Argument 314/2015.
Hintergrundmaterial zum Leben und Wirken von Pietro Ingrao findet man auf der Homepage http://www.pietroingrao.it/