Gianrico Carofiglio, bislang vor allem als Krimiautor wahrgenommen, ist mit „Drei Uhr morgens“ ein kleiner Entwicklungsroman gelungen
Mailand/Bari – Der jugendliche Antonio leidet an Epilepsie. Am Ende einer erfolgreichen Therapie nach Vorgaben eines französischer Spezialisten fährt er zusammen mit seinem Vater zur Abschlussuntersuchung nach Marseille. Vater und Sohn erwarten eine Routineuntersuchung, doch der Neurologe will seinen Patienten einer letzten, schockartigen Prüfung unterziehen. Alle Medikamente werden abgesetzt und der junge Mann soll zwei Tage und zwei Nachte verbringen, ohne zu schlafen. Nach dieser Stressphase könne man, so der Arzt, endgültig feststellen, ob Antonio geheilt sei oder nicht. Das ist die Ausgangsposition des kleinen Romans Le tre del mattino (Einaudi 2016) von Gianrico Carofiglio, der jetzt unter dem Titel „Drei Uhr morgens“ in der Übersetzung von Verena von Koskull bei Folio (Bozen/Wien) auf Deutsch erschienen ist.
Die Eltern Antionios leben getrennt, der Junge wächst bei seiner Mutter auf. Vater (Mathematikprofessor und Musikliebhaber) und Sohn, die sich bislang eher fremd geblieben waren, finden in diesen 48 Stunden nicht sofort zusammen, doch finden sie Wege, um miteinander im Gespräch zu bleiben. Was trägt, sind gemeinsame Erlebnisse in der Stadt, in den Kneipen, bei Spaziergängen, bei Wachträumereien. Sie machen die Bekanntschaft mit zwei Architektinnen, die sie mit auf eine Party nehmen. Hier begegnet Antonio Marianne – und erlebt parallel zur Gesundheits- eine Reifeprüfung.
In einer Anmerkung des Autors heißt es, die Geschichte beruhe auf wahren Begebneheiten, die Figuren jedoch seien „bis auf eine“ frei erfunden. Diese eine ist die Figur des Arztes, des berühmten Neurologen Henri Gastaut (1915-1995), der die neurobiologischen Laboratorien des Spitals von Marseille aufgebaut und geleitet hatte. Der im Buch beschriebene Stresstest, so der Autor im Gespräch, sei jedoch inzwischen medizinisch überholt und verboten.
Eine Hommage an den Vater
Das Buch erzählt die Geschichte aus der Perspektive Antonios, der sich an sie erinnert, als er etwa so alt ist, wie es sein Vater bei dieser Reise nach Marseille war. Mit der Geschichte einer Reifung, die Drei Uhr morgens zu einem kleinen, einfach erzählten und unprätentiösen Entwicklungsroman macht, zeichnet Carofiglio zugleich ein liebevolles Porträt der Vaterfigur. Und auch wenn der Autor nicht müde wird, auf die literarische Fiktion zu verweisen, sind hier doch Züge seines Vaters, ein Ingenieur und Musikliebhaber, sichtbar eingeflossen.
Gianrico Carofiglio, geboren 1981 in Bari, ehemaliger Staatsanwalt und seit Jahren engagierter Bürgerrechtler, ist als Schriftsteller vor allem für seine „legal Thriller“ mit dem Avvocato Guerreri als Protagonisten bekannt geworden. Sein jüngster Guerreri-Roman „La misura del tempo“ (Einaudi 2019) führt in Italien die Bestellerlisten zusammen mit dem neuen Buch von Elena Ferrante an. Mit Drei Uhr morgens ist es Carofiglio gelungen, dem Etikett des „Krimiautors“ eine überraschend neue Schattierung zu geben.
Gianrico Carofiglio: Drei Uhr morgens. Roman. Aus dem Italienischen von Verena von Koskull. Folio Verlag, Bozen/Wien 2019. 192 Seiten, 20 Euro (E-Book 14,99 Euro)