„BEI UNS IST IMMER WAS LOS“


60 Jahre nach seiner Gründung hat sich der Feltrinelli-Verlag in ein Kulturunternehmen verwandelt, das nicht nur Bücher herstellt und verkauft, sondern ebenso einen TV-Sender betreibt und sogar für gutes Essen sorgt.

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Neubau der Fondazione Feltrinelli

Mailand. Das Gebäude, das bei der Porta Volta in Mailand merkwürdig gotisch spitz 32 Meter hoch in den Himmel wächst, ruft Vergangenheit wach. Denn hier, am ehemaligen Stadttor vor dem Monumentalfriedhof der lombardischen Metropole, besaß Anfang des vergangenen Jahrhunderts eines der größten Holzunternehmen Italiens, die Feltrinelli Legnami, Lagerflächen. Der Haupterbe des Unternehmens, zu dem auch eine Bank gehörte, war Giangiacomo Feltrinelli (1926-1972). Doch der interessierte sich weniger für Industrie- und Bankgeschäfte und investierte lieber in Kultur. 1949 gründete er eine Bibliothek zur Erforschung der Arbeitergeschichte und dann 1955 einen eigenen Verlag. Die Bibliothek, die inzwischen in eine Stiftung überführt wurde (Fondazione Feltrinelli) bekommt nun nach Plänen des Züricher Architekturbüros Herzog & de Meuron einen neuen Sitz – eben an der Porta Volta auf dem alten Feltrinelli-Grundstück. In einem gewissen Sinne sei man also nach Hause zurück gekehrt, sagt Carlo Feltrinelli, – „um die Zukunft anzugehen“. Der 52jährige Sohn von Giangiacomo und Inge Feltrinelli führt heute das Unternehmen.

In dem 188 Meter langen Bau, der von einem kleinen Park gesäumt wird, sollen neben der Stiftung mit Bibliothek, Studien- und Versammlungsräumen ebenso Geschäftsräume, ein Restaurant und natürlich eine Buchhandlung Platz finden. Das Gebäude spiegelt mit seinen vielfältigen Aktivitäten gleichsam den Charakter von Feltrinelli heute wieder. Aus Verlag und Stiftung hat sich nämlich eine Unternehmensgruppe entwickelt, die auf vielen Feldern der Kultur in einer überraschenden Spannweite tätig ist.

Ein Fernsehsender nach dem Vorbild von Arte
Zum Beispiel seit zwei Jahren mit einem eigenen TV-Sender (laeffe), der ein gehobenes Spielfilmprogramm bietet – aber auch Kochkurse. Politische Beiträge liefert ein Partner, die Espresso-Gruppe mit der Tageszeitung „la Repubblica“. Vorbild ist der deutsch-französische Kulturkanal Arte.

Oder mit Gastronomie. In Mailand, Florenz und Rom kann man bei „RED“ (Read – Eat – Dream“) lesen, essen und träumen. Dafür hat Feltrinelli die sizilianische Restaurant-Kette Antica Focacceria San Francesco übernommen und sie mit Buchhandlungen vereinigt. Inge Feltrinelli freut sich: „Tolles Essen, schöne Bücher – was will man mehr.“ RED-Mailand etwa auf der Piazza Gae Aulenti im neuen Hochhausviertel der Stadt ist ein Publikumsrenner von morgens früh bis Mitternacht – italienische Lebenskunst pur.

Um den intellektuellen Nachwuchs kümmert sich die von Alessandro Baricco in Turin gegründete Kreativ-Akademie „Scuola Holden“ (Ausbildung von Autoren auch für neue Medien, TV und Werbung) – Feltrinelli ist mit 49 Prozent beteiligt. Und weil Kultur schließlich ein Fest ist, haben der Verlagschef und seine Mitarbeiter in der Toskana das Sommerfestival „Cortona-Mix“ mit Literatur, Musik, Theater und Kunst ins Leben gerufen. „Bei uns ist immer was los“, lacht Inge Feltrinelli.

Eine Buchhandelskette mit über 100 Verkaufsstellen
„Unser Kerngeschäft bleibt jedoch das Buch“, unterstreicht Sohn Carlo. Wobei der Verlag bei einem Umsatz von rund 30 Millionen Euro heute nur noch das Spielbein des Gesamtunternehmens ist. Das Standbein sind über 100 Verkaufsstellen im ganzen Land, traditionelle Buchhandlungen aber ebenso Läden in Bahnhöfen, Flughäfen oder in Einkaufszentren. Sie machen das Feltrinelli zum größten und modernsten Buchhändler Italiens. In vielen Verkaufspunkten werden auch DVDs und Videos angeboten, nachdem man 1995 die Ricordi Ladenkette übernommen hatte. Zugleich verkauft Feltrinelli Design-Objekte und hier und da sogar elektronische Geräte. In diesen Buch- und Medienläden wird – unterstützt von einem lebhaften Internetauftritt – in einem traditionell leseschwachen Land mehr als das Zehnfache von dem umgesetzt, was der Verlag mit dem Büchermachen verdient. Einzelhändler beklagen allerdings die starke Rolle der Feltrinelli-Kette und fühlen sich durch häufige Preisnachlässe – in Italien gilt nur eine eingeschränkte Buchpreisbindung – bedroht. Sie rümpfen über den „Supermarkt Feltrinelli“ die Nase. Das Geschäft ist hart. Wer im Buchhandel überleben will, muss sich selbst der Nächste sein. Zumal Umsatzeinbrüche die Zukunft weniger rosig aussehen lassen als noch vor ein paar Jahren.

Das Image von Feltrinelli bleibt jedoch vor allem mit dem Verlag und seinen Autoren verbunden. Mit Namen wie Giuseppe Tomasi di Lampedusa, Nadine Gordimer oder Günter Grass. Mit Geschichten, wie Pasternak sein Manuskript des „Doktor Schiwago“ aus der Sowjetunion hinaus schmuggeln konnte und an den jungen Mailänder Verleger die Weltrechte vergab. Mit der eigenen Historie, als der extrem links orientierte Giangiacomo Feltrinelli in den politischen Untergrund ging und unter nie ganz geklärten Umständen 1972 ums Leben kam. Seine aus Göttingen stammende Frau Inge Feltrinelli, die sich als Fotografin einen Namen gemacht hatte, übernahm damals entschlossen die Verlagsleitung und führte das Unternehmen durch stürmische Jahre. Als Ikone der italienischen Verlagsgeschichte ist die heute 84jährige rastlos und mit ungebrochen positiver Ausstrahlung immer noch der beste Werbeträger des Hauses. Autoren der jüngeren Vergangenheit von Stefano Benni über Alessandro Baricco bis Roberto Saviano prägen inzwischen das Bild eines Verlages, „der ohne Snobismus neue und originelle Stimmen sammeln möchte“, wie Carlo Feltrinelli sagt.

Carlo hat ideologischen Ballast abgeworfen
Der heutige Verleger hat ein schwieriges Erbe übernommen. Er hat ideologischen Ballast abgeworfen. Jedoch möchte Feltrinelli sich weiterhin in öffentlichen Debatten engagieren „mit kritischen Texten und unbequemen Wortmeldungen“. Das Unternehmen versteht sich „als eine Art Protein in der demokratischen Gesellschaft“. Während der Konzentrationsprozess im Verlagswesen auf eine Oligarchie weniger Gruppen zusteuert – gerade ist Mondadori dabei, die Rizzoli-Gruppe zu schlucken –, bleibt Feltrinelli (noch) unabhängig. Nicht zuletzt, weil sich das Unternehmen mit insgesamt rund 1700 Mitarbeitern im kulturellen Umfeld absichert (Gesamtumsatz der Gruppe zuletzt 438 Millionen Euro). Und dabei keine Angst vor einem kräftigen Schuss Kommerz zeigt.

Die Fondazione Feltrinelli, mit der eigentlich alles angefangen hat, kümmert sich derweil nicht nur um die Geschichte der Arbeiterbewegung. Für die Mailänder Expo ist hier unter der Leitung des Philosophen Salvatore Veca (Universität Pavia) das wissenschaftliche Begleitprogramm ausgearbeitet worden. Dazu gehört die „Charta von Mailand“, die alle Teilnehmerstaaten der Expo zu nachhaltiger Produktion in der Landwirtschaft und zum Kampf gegen die Verschwendung von Lebensmitteln verpflichten will. „Den Gedanken Kraft zu geben, das“, so Carlo Feltrinelli, „ist unsere Aufgabe.“ Daran wird an der Porta Volta jetzt gebaut.

Erstveröffentlichung in der Stuttgarter Zeitung vom 13.8.2015