DER NEFFE AUS AFRIKA


Francesca Melandri legt mit dem Roman „Alle, außer mir“ Italiens Verbrechen während der Kolonialzeit in Äthiopien bloß, beschreibt Probleme der Emigration heute, aber sie erzählt vor allem eine spannende Familiengeschichte

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Emigranten in Italien – Ausschnitt aus einem Gemälde des Chinesen Liu Xiadong frei nach dem „Quarto Stato“ von Giuseppe Pelizza da Volpedo

Mailand/Rom – Francesca Melandri hat einen Roman geschrieben, den alle Italienliebhaber im deutschen Sprachraum gelesen haben sollten: Alle, außer mir (Wagenbach Verlag). Die Autorin aus Rom erzählt von Ilaria, Lehrerin in der italienischen Hauptstadt, die an einem Sommertag vor ihrer Wohnungstür auf einen dunkelhäutigen jungen Mann stößt, der behauptet, dass sie seine Tante sei. Wie bitte? Tante eines Afrikaners? Ilaria will den Besucher mit einem Almosen schnell wieder los werden.

Doch der junge Mann zeigt ihr seinen Ausweis aus Äthiopien mit einem absurden Namen, der auf den ihres Vaters Attilio Profeti verweist. Wenig weiß Ilaria von dem Leben ihres Vaters zur Zeit des Faschismus und des Krieges. War er in Äthiopien gewesen? Hatte er dort mit einer Einheimischen ein Kind gezeugt, dessen Kind wiederum jetzt Mitten im Sommer 2010 in Rom auftaucht und behauptet, es sei Ilarias Neffe?

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Die zu uns flüchten – und wenn ein Verwandter von uns unter ihnen wäre?

Der Vater hat sich längst in die Schatten der Demenz zurückgezogen, in denen die Erinnerung untergegangen ist. Ilaria und ihr Bruder machen sich also daran, über viele Umwege Licht ins Dunkel dieser Geschichte zu bringen. Zusammen mit ihnen taucht der Leser in eine bewegte, verrückte, bedrückende Familiengeschichte ein, die über drei Generationen hinweg quer durch das Land aber vor allen nach Äthiopien führt. Ilaria lernt die Geschichte ihres Vaters, seine Verstrickungen im Faschismus und seine Rolle im von Italien besetzten Äthiopien kennen. Mit Entsetzen liest sie rassistische Schriften aus seiner Hand, während er wohl gleichzeitig eine liebevolle Beziehung mit einer Einheimischen eingegangen war. Eine Beziehung, die er aus seinen Erinnerungen löschte, als er nach Italien zurück kehrte, um erfolgreich ein neues Leben zu beginnen.

Eine verdrängte Geschichte

Der Leser lernt über Ilarias Familiengeschichte hinaus die brutale Kolonialgeschichte Italiens in Äthiopien kennen. Menschenverachtung, Massenvernichtung, Einsatz von Giftgas. Man findet zwar in wissenschaftlichen Veröffentlichungen (etwa durch Schriften des Turiner Historiker Angelo del Boca) breite Informationen über die Verbrechen, die Italien während seiner Kolonialherrschaft in Nordafrika und besonders in Äthiopien begangen hat. Aber bis heute werden diese Frevel in der breiten Öffentlichkeit gerne verdrängt. Die Originalausgabe von Alle, außer mir 2017 war bei Rizzoli unter dem Titel Sangue giusto“erschienen. Nach Recherchen auch an Ort und Stelle konnte die Autorin eine Fülle von erschreckenden Details ausbreiten.

Bebilderte Geschichte für Schokoladenkonfekt – Erster Krieg Italiens gegen Äthiopien 1935

Francesca Melandri, geboren 1964 und Schwester der linksdemokratischen Politikerin und früheren Kulturministerin Giovanna Melandri, hat aber keinen vornehmlich historischen Roman geschrieben, auch wenn sich die Autorin vielleicht in einigen Passagen allzu lange durch die Schrecken der Geschichte quält. Das ist ein Roman über unsere Gegenwart, ein Text, der die Selbstlügen einer Nation und die Verdrängung der Vergangenheit offen legt. Bereits in ihrem ersten Roman Eva schläft (2011) gelang es Francesca Melandri, eine individuelle Geschichte mit den Vorgängen und Umbrüchen in der Gesellschaft Südtirols der 1960er/1970er Jahre eindrucksvoll zu verbinden.

Ein Buch, das unter die Haut geht

Das spannende an Alle, außer mir ist die Verknüpfung der Vergangenheit mit den Problemen der Emigration heute. Mit dem versteckten wie dem offenen Rassismus unserer europäischen Gesellschaften – mit Auffanglagern, die Strafanstalten ähneln, willkürlichen Abschiebungen oder auf der anderen Seite einer gut gemeinten Willkommenskultur, die die täglichen Probleme der Zuwanderung auf die leichte Schulter nimmt. Das ist ein Buch, das unter die Haut geht.

Ilarias Beziehungen zur Mutter, zum am Ende verstorbenen Vater, zum Bruder, zum Liebhaber – ausgerechnet einem Mitstreiter Berlusconis – und zum vermeintlichen Neffen geben dem Roman eine persönliche Ebene, die den Leser mit einbezieht. Ilarias Selbstzweifel, ihre Fragen, ihre Hoffnungen können auch seine sein. Sie machen dieses Buch zu der vielleicht wichtigsten literarischen Veröffentlichung des Jahres aus und über Italien.

Francesca Melandri: Alle, außer mir. Roman. Aus dem Italienischen von Esther Hansen. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin. 604 Seiten, 26 Euro. Info hier  

Bei Wagenbach liegt von Francesca Melandri außerdem vor: Eva schläft. Im März 2019 wird im Verlag zudem Melandris hoch gelobter zweiter Roman Über Meereshöhe wieder aufgelegt, der 2012 zum ersten Mal auf Deutsch bei Blessing erschienen war.