Paolo Rumiz und seine Wanderung über die Via Appia von Rom nach Brindisi zwischen antiken Ruinen, Olivenbäumen und hupenden Lastwagen. Eine Begegnung mit dem Autor zur deutschen Veröffentlichung seines Buches über eine abenteuerliche Fußreise.
Itri/Mailand – Die alte Via Appia zeigt südlich von Rom auf der Strecke zwischen Fondi und Itri ein ehrwürdiges Pflaster mit glatten, an den Rändern rund geschliffenen Steinen. Schwarzbraune Steine vulkanischen Ursprungs: „Hier haben die Bourbonen im 18. Jahrhundert die Straße erneuert“, erklärt Paolo Rumiz. Man kann sich unterwegs auf der antiken Römerstraße kaum einen besseren Begleiter als den heute 71jährigen Journalisten und Publizisten aus Triest wünschen.
Rumiz schrieb u.a. für die Tageszeitung la Repubblica Reportagen und Essays über seine Reisen unter anderen durch den Apennin (mit einem Fiat Topolino) oder den Po flussabwärts (mit Kanu und Segelboot). Und veröffentlichte ein Tagebuch über den monatelangen Aufenthalt auf einer einsamen Leuchtturminsel in der südlichen Adria. Im Frühjahr 2015 machte er sich dann mit ein paar Freunden auf, den rund 540 Kilometer lang Weg von Rom über Benevent und Tarent nach Brindisi in 29 Tages-Etappen zu Fuß zurück zu legen. Über diese Reise auf der Via Appia hat Paolo Rumiz ein Buch geschrieben (Feltrinelli 2016), das jetzt im Folio Verlag (Wien/Bozen) auf Deutsch erschienen ist.
Ein Opfer ihrer Rationalität
Von der 312 vor Christus begonnen Verkehrsverbindung quer durch das südliche Italien zur Adria sind heute historische Teile nur noch auf wenigen Abschnitten erhalten. Zwischen Fondi und Itri verlaufen sie etwa in einem kleinen Naturschutzgebiet wenige Meter neben der modernen Appia, der viel befahrenen Staatsstraße SS 7. Die Appia sei „ein Opfer ihrer Rationalität“ geworden, erläutert Rumiz beim Spaziergang mit Journalisten anlässlich der deutschen Übersetzung seines Buches. Der Verlauf der Strecke – teilsweise über Dutzende von Kilometern schnurgerade – sei bereits in der Antike unter Konsul Appius Claudius Caecus so geschickt gewählt worden, dass sich das Asphaltband der SS 7 streckenweise einfach über das römische Basaltpflaster gelegt hat, das unter den Päpsten im 18. Jahrhundert und den Königen aus Neapel an der Wende zum 19. Jahrhundert immer wieder ausgebessert worden war.
Reisende wie Goethe, der in Fondi übernachtete, lobten etwa wie „die alte Via Appia“ durch die pontinischen Sümpfe „wiederhergestellt“ worden sei. Sie verbinde das „Abendland mit dem Orient“ schrieb Gregorovius hochachtungsvoll vor 150 Jahren in seinen „Wanderjahren in Italien“. Heute findet man vielen Rändern der Staatsstraße achtlos an die Seite gerollte antike Pflastersteine.
Verschütte Spuren freilegen
Hier und da verliert sich jedoch die Spur der alten Appia in Kornfeldern, sie wird von Ortskernen überlagert oder führt wie in Minturnae Mitten durch Ausgrabungsstätten. Paolo Rumiz und seine Begleiter hatten es sich in den Kopf gesetzt, so viel möglich von den verschütteten Spuren wieder freizulegen. Aus historischem Material und alten Militärkarten konnten sie die originale Route dokumentieren und in einen GPS-Navigator einspeisen, der sie unterwegs unterstützte. Und so kletterten sie über manche Zäune, durchquerten Felder und wateten durch Flüsse, weil die alte Brücken zerfallen waren oder die deutsche Wehrmacht sie beim Rückzug 1944/45 zerstört hatte.
„Manchmal habe ich die Appia gehasst wegen all der Probleme, die sie uns gemacht hat.“ Und weil auf dem Asphaltband der SS7 Fußgänger unerwünscht sind. Der sonst so sanfte Paolo Rumiz kann manchmal richtig wütend werden: „Als Italiener und als Wanderer bestehe ich darauf, dass zurückgegeben wird, was uns durch eine demente Automobil-Logik genommen worden ist.“ Wandern sei, so schreibt er auch in seinem Buch, „ein Akt der Rebellion“.
Eine vergessene Straße
Und eine Art, Menschen kennen zu lernen. Personen, die die Wanderer wie Eindringlinge behandelten, wie Spinner – oder sie nach erster Skepsis willkommen hießen und sie mit Speis und Trank versorgten. Nur wenige aber kannten den alten Verlauf der Appia oder waren sich der historischen Bedeutung der Verkehrsachse bewusst. Die alte Appia ist heute eine „vergessene Straße“.
Das war früher anders. „Regina Viarum“, Königin der Straßen“ nannte man die Appia zu Caesars Zeiten. Sie sei die „Schlagader der Antike“ gewesen, sagt Rumiz, „militärisch, politisch, ökonomisch, spirituell.“ Vom Rom aus konnte so über die Häfen Tarent und Brindisi das östliche Mittelmeer kontrolliert werden. Umgekehrt flossen von der Adria aus orientalische Waren und Gewürze in die Hauptstadt des Reiches. Die Straße wimmelte von Menschen – und von Ideen. Über sie wanderte der Mithras-Kult ins römische Herz wie später das Christentum. Die Via Appia ist auch die Straße, auf der Petrus und Paulus nach Rom zogen. Heute donnern Lastwagen bei Formia an den Resten des Grabmals von Cicero vorbei. Und Fußgänger sind unerwünscht.
Im Buch beklagt der Autor – vielleicht etwas zu leidenschaftlich – nicht nur den Verfall und den rücksichtslosen Umgang mit den kulturellen Zeugen der Vergangenheit. Er spürt auch gegenwärtigen sozialen Verhältnissen nach oder beschreibt lokale Mafiabeziehungen. Zugleich führt er den Reichtum der süditalienischen Natur vor Augen, labt sich an kühlem Wasser wie an frischem Obst oder feurigem Wein.
Der Gesang der eigenen Schritte
Beim Spaziergang mit Rumiz, der bei Formia bis ans strahlend blaue Meer zu Resten von antiken Villenanlagen führt, fühlt man sich in die Zeit versetzt, die Goethe in seiner italienischen Reise im Februar 1787 auf der Appia beschrieben hatte: „Indianische Feigen trieben ihre großen, fetten Blätterkörper zwischen niedrigen, graulichgrünen Myrten unter gelbgrünen Granatbäumen und fahlgrünen Olivenzweigen. Narzissen und Adonis blühten auf den Wiesen.“ Die leuchtenden Früchte der Bitterorangen nicht zu vergessen. Kurz vor Brindisi, erzählt Paolo Rumiz, hatte er den traumhaften Eindruck, dass die Olivenbäume am Straßenrand zu Begleitung nebenher liefen.
Farben, Gerüche, Klänge. „Der eine Grundton der Appia ist das Bellen der Hunde.“ An jedem Grundstück, an dem die Wanderer vorbei kamen, verschafften sich die Hunde laut Respekt. „Statt die Autos anzukläffen oder die Motorräder, nahmen sie es mit uns Fußgängern auf.“ Dumme Hunde. Und dann war natürlich das Rauschen des Autoverkehrs, das Hupen der Lastwagen, heiser und dumpf wie aus Lautsprecherboxen bei einem Pop-Konzert. Himmelsklänge erzeugte dagegen der Wind, der sanft durch Olivenzweige strich. Auch immer dabei: „Der Gesang der eigenen Schritte.“ Und das Pochen der Herzschläge.
Das sei keine „patriotische Reise“ gewesen, schreibt der Autor im Vorwort seines Buches, „denn wir haben das Hässliche nicht unter den Tisch fallen lassen.“ In Wahrheit aber sei sie jedoch „eine Liebeserklärung an Italien“ und „ein Weckruf an den besseren Teil seiner Bevölkerung.“
Hoffen auf einen europäischen Wanderweg
Paolo Rumiz träumt davon, dass die Via Appia wie der Jakobsweg in Spanien zu einem europäischen Wanderweg wird. „Anders als der Weg nach Santiago di Campostela ist die Appia sogar in beiden Richtungen zu durchlaufen und eben mehr als nur ein Pilgerweg“, sagt er. Nach Veröffentlichung seines Buches hatte die römische Regierung unter Ministerpräsident Renzi 20 Millionen Euro für einen ersten Ausbau eines solchen Wanderweges bewilligt. Ob die gegenwärtige Regierung unter der Fuchtel des lautstarken Innenministers Salvini dafür die Durchführungsbestimmungen erlässt, steht in den Sternen.
Wichtig aber ist dem Autor, dass er lokales Interesse aufrütteln konnte. Das Buch und der bei der Reise entstandene Dokumentarfilm hat an vielen Orten längs der Via Appia Initiativen geweckt, die mit Festveranstaltungen, mit Einrichtungen von Wanderwegen oder Führungen zu vergessen Ruinenfeldern der alten Römerstraße und ihrem Umfeld zu neuem Leben verhelfen. Es ist „il popolo della Via Appia“, das Volk der Via Appia, das Rumiz wachrütteln wollte. Und Träume möglich macht. In Itri zum Beispiel, wo der Schauspieler Pasquale mit einem B&B sein finanzielles Auskommen sichert. Aber das alte kommunale Theater, das zurzeit aus Sicherheitsgründen nicht zugänglich ist, das möchte er wieder eröffnen und ein Stück mit Paolo Rumiz über die Geschichte der Via Appia aufführen.
Oh Du meine Füße
„Das war vielleicht die letzte große Fußreise meines Leben“, sagt der Autor beim Abschied. Er wollte, dass es eine nützliche Reise wird. Dass als Ergebnis „nicht nur Zeitungsartikel, ein Buch, ein Film stehen, sondern Veränderungen.“ Etwas, dass er Kindern und Enkelkindern hinterlassen könnte. Und dann möchte er sich noch einmal, wie bereits am Ende seines Buches, bei seinen Füßen bedanken, die ihn den weiten Weg getragen haben. Unterwegs, so schien es, seien ihm die Gedanken von unten, von den Füßen aus aufgestiegen. Denn Wandern, so Paolo Rumiz, „wandelt das Denken – und die Welt.“
Paolo Rumiz: Via Appia. Auf der Suche nach einer verlorenen Straße. Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Folio Verlag, Wien/Bozen. 272 Seiten, 25 Euro
Der Beitrag ist in kürzerer Form erschienen in der Stuttgarter Zeitung am 20.4.2019
Über die Reise mit Paolo Rumiz hat Alberto Scillitani einen Film (DVD ) gedreht. Hier zum Trailer
Auf Cluverius siehe Auf jeder Insel Feuer machen – ein Gespräch mit Paolo Rumiz über seine Reise auf dem Po