Pippo Delbono über Jesus Christ Superstar und Menschen an den Rändern der Existenz
Mailand (Piccolo Teatro) – „Warum machst Du nicht ein Stück über das Evangelium, Pippo? Die Welt hätte ein Zeichen der Liebe nötig.“ So erzählt Pippo Delbono im Off, während auf der Bühne nur leere Stühle zu sehen sind, von der Bitte seiner katholischen Mutter wenige Tage vor ihrem Tod. Ein Zeichen der Liebe? Was bedeutet Liebe heute? Der 57jährige Autor und Schauspieler aus Ligurien, der an keinen Gott und keine Kirche glaubt und sich seit Jahren zum Buddhismus bekennt, fing an sich an seine Jugend als Messdiener zu erinnern. Und an die Geschichte des Christentums, seine Symbole, an die Worte des Evangeliums und daran, wie Menschen heute miteinander umgehen. Er sammelte wie immer bei seiner Arbeitsweise Material im Privaten wie im Öffentlichen, Bilder bei eigenen Krankenhausaufenthalt wie in Flüchtlingslagern.
Eine Revue aus Film, Tanz, Theater und Musik
Bilder, Erinnerungen, Geschichten, Reflexionen und Provokationen vereinigen sich so in der jüngsten Arbeit von Delbono „Vangelo“ (Evangelium) in der für sein experimentelles Theater kongenialen Form der Revue aus Film, Tanz, Theater und Musik – unter anderem mit Originalmusik von Enzo Avitabile. Ausgangspunkt war eine Zusammenarbeit von Schauspielern und Tänzern des kroatischen Nationaltheaters Zagreb mit den bekannten Mitgliedern seiner eigenen Theatertruppe. Dazu gehören der inzwischen 80jährige taubstumme Bobo, der ehemalige Clochard Nelson oder Gianluca mit seinem Down Syndrom.
Für den Einsatz von anders Begabten – das Wort Behinderte wäre für Delbono ein Unwort – ist der Theatermann gefeiert wie angefeindet worden. Aber vielleicht haben seine Darsteller und ihre von Leiden gekennzeichneten Körper nie so selbstverständlich gewirkt wie hier bei dem Themenkreis Religion, Glaube und Evangelium und den Dramen, die Flüchtlinge erleben. Einen, Safia Zakria aus Afghanistan, hat er in seine Gruppe integriert. Geschichten von Insassen aus einem Lager in Asti werden per Video zugespielt.
Das Theater muss uns in Frage stellen
„Ich arbeite anarchisch und nicht politisch korrekt“, sagte er bei einer Konferenz des Piccolo in Mailand. „Mich interessiert kein Theater, mit dem das Publikum sich wieder erkennen kann, das nach gestern riecht und nach Bürgerlichkeit. Das Theater muss uns in Frage stellen. Die Flüchtlinge sind zu Tausenden gekommen, darüber kann man nicht hinwegsehen.“
Es ist nicht leicht, der völlig freien, emotionalen, ichbezogen Erzählweise von Delbono zu folgen, der Augustinus mit Pasolini mischt, Schubert mit Frank Zappa, Pina Bausch mit Jesus Christ Superstar. Doch wenn man bereit ist, sich darauf einzulassen, geht man gedankenreicher aus dem Theater, als man es betreten hat.
Nach der Uraufführung in Lausanne (Januar 2016) und Aufführungen in Rom und bei mehreren Theaterfestival ist „Vangelo“ nun in Mailand zu sehen. Danach wird Pippo Delbono damit nach Moskau (Ende November) und nach Paris und andere Städten Frankreichs (Januar bis März) ziehen. Zu Ostern soll der Film „Vangelo“ in die Kinos kommen, den der Regisseur beim Filmfestival Venedig vorgestellt hatte.
„Vangelo“, Compagnia Pippo Delbono. Produktion: ert – Emilia Romagna Teatro Fondazione 2016