Gedichte von Anna Maria Carpi
Mailand. Anna Maria Carpi erzählt mit ihren Gedichten einfache Geschichten, lässt Situationen lebendig werden und Orte. Man wird von ihren Beobachtungen von der ersten Zeile an gepackt: „Zwei handgeschriebene Zettel / im Einkaufswagen: / Der da ist verdreckt, sagt eine biedere Dame, / und will ihn nicht.“ Eine oberflächliche Begegnung im Supermarkt, Einkaufszettel mit Warenwünschen von „Nesquik in der Tüte“ bis zu „Scheuermittel“. Alltag blitzt auf: „ Als sähe ich in eine Küche / in einer Nebenstraße, in einer Wohnung, / das Licht vom Hof, dann den Abend, / ein ganzes fremdes Leben, / und mir wird bange.“
Anna Maria Carpi wohnt in Mailand, wo sie 1939 geboren wurde. Sie hat Germanistik und Slawistik studiert und zeitweilig in Bonn, Berlin und Moskau gelebt. An den Universitäten Macerata und Venedig lehrte sie deutsche Literatur und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Sie übersetzte Autoren wie Nietzsche oder Benn, Enzensberger oder Krüger ins Italienische und schrieb Erzählungen und Romane – auf Deutsch erschien unter anderem: „Kleist. Ein Leben“ (Insel Verlag, 2011). Man erzählt Legenden über ihr angeblich 15 Tausend Seiten umfassendes Tagebuch. Relativ spät fand sie in den 1990er Jahren zur Lyrik. Eine Auswahl, kongenial übersetzt von Piero Salabè, ist unter dem Titel „Entweder bin ich unsterblich“ bei Hanser (Edition Lyrik Kabinett) erschienen.
Da sind Gedichte aus dem Alltag, die sich dem Kleinen am Wegesrand widmen. Etwas über die Bar an der Ecke erzählen, über den Bahnhof oder die Einkaufsstraße. Städte kommen darin vor, Mailand vor allem. Doch ihre realistischen Zugänge werden immer wieder ironisch – manchmal auch melancholisch – gebrochen, was ihnen eine starke autobiographische Komponente verleiht. Gedichte seien Botschaften, „einer intermittierenden Psyche, die sich anderen öffnet“, schreibt Durs Grünbein in einem Nachwort. Und fügt hinzu: Anna Maria Carpi „ist auf der Suche nach der Geheimtür, durch die man aus dem schmalen und schalen Alltagsleben heraustreten kann.“ Denn über den Wirklichkeitssinn schreibt die Autorin selbst: „Ihr seid starke Geister, ich nicht, ich will / träumen können, / dass hinter diesem Meer eine andere Welt beginnt. “
Der Leser folgt Anna Maria Carpi bei ihrer Suche fasziniert auch auf vielen Umwegen bis in die Intimsphäre: „Liebe ist dem anderen sagen, du bist unendlich. / Entweder bin ich unsterblich oder nichts.“
Anna Maria Carpi: Entweder bin ich unsterblich. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Italienischen von Piero Salabè. Mit einem Nachwort von Durs Grünbein. Carl Hanser Verlag, München 2015. 158 Seiten, 15,90 Euro