Wie der römische Matthäus-Zyklus von Michelangelo Mersi im Ort Caravaggio „geklont“ wurde
Caravaggio (Juli 2013) – Mit lauten Rufen umkreisen Schwalben die mächtige Barockkuppel der Wallfahrtskirche Santa Maria Del Fonte rund 30 Kilometer südlich von Bergamo. An die drei Millionen Menschen pilgern jedes Jahr in dieses lombardische Lourdes, wo 1432 die Madonna dem Bauernmädchen Giannina erschienen ist. Seitdem sprudelt hier heilbringendes Wasser aus der Erde. Heute muss es allerdings wegen des dramatisch gesunkenen Grundwasserspiegels mit einer Elektropumpe in jenen Brunnen gepumpt werden, über dem der monumentale Kirchenbau einst entstanden ist. Schnurgerade führt eine baumbestandene Allee über die Eisenbahnlinie Treviglio–Cremona hinweg zum nahen Ortskern, den kaum einer besucht. Die Pilger kommen meist nur für eine Tagesreise zur heiligen Stätte oder übernachten direkt am Santuario. Im Ort selbst, der in der Nachmittagshitze eines Julitags noch ausgestorbener wirkt als gewöhnlich, gibt es erst seit wenigen Jahren ein einziges kleines Hotel. Willkommen in Caravaggio!
Geboren in Mailand – in Caravaggio aufgewachsen
Bislang erinnert kein Denkmal und keine Kultureinrichtung daran, dass ein weltberühmter Künstler von hier stammt. Nur die Volksschule ist benannt nach Michelangelo Merisi, der 1571 (vermutlich in Mailand) geboren wurde und am 18. Juli 1610 in Porto Ercole nördlich von Rom nach einem abenteuerlichen Leben an der Malaria starb. Mit „Michel Angelo da Caravaggio“ unterzeichnete der Maler stolz offizielle Dokumente. Als sei es eine Auszeichnung, aus diesem unbekannten Marktflecken der Poebene zu stammen, der damals von einem Nebenzweig der Grafen Sforza regiert wurde. Hier lebten Eltern und Großeltern. Und hier wuchs der junge Caravaggio auf, wie ihn die Nachwelt inzwischen nennt. Italien feierte 2010 seinen 400. Todestag mit großen Ausstellungen. Dass Caravaggio in Mailand geboren sein soll, weil sich die Familie dort ein paar Jahre aufgehalten haben könnte und eine Eintragung im Gemeindearchiv der Mailänder Kirche Santo Stefano in Brolo seine Taufe belegt, halten viele der 16000 Einwohner von Caravaggio für ein Gerücht.
Angefangen beim Bürgermeister, dem 56-jährigen Giuseppe Prevedini, der im mittelalterlichen Palazzo Gallavresi an der Piazza Garibaldi residiert. Der gelernte Chemotechniker gehört der Lega Nord an, die hier seit 1997 ununterbrochen regiert. Bei den vergangenen Kommunalwahlen erhielt sie 64 Prozent der Stimmen und damit zwei Drittel der Sitze im 21-köpfigen Gemeinderat. Diese Prozentzahlen sind in den ländlichen Gebieten der Lombardei keine Seltenheit. Bemerkenswert ist, dass hier sogar der (einzige) Vertreter der Berlusconi-Partei Forza Italia die Oppositionsbank zusammen mit sechs Mitgliedern einer gemäßigt linken Wählervereinigung „Per Caravaggio“ drückt. Der Oppositionsführer Antonio Lazzarini von der Liste „Für Caravaggio“ nennt den Sindaco, den Bürgermeister, „eigentlich ganz in Ordnung“ – obgleich er ab und zu mit forschen fremdenfeindlichen Sprüchen und Anordnungen seine Klientel bedienen würde. Und was das Leben des Malers angeht, gab der Bürgermeister kund: Caravaggio sei in Caravaggio geboren und in Porto Ercole gestorben, Mailand solle sich da gefälligst raushalten.
Die Technik des Adam Lowe von Factum Arte
Auch der 61-jährige Elektromeister Silvio Bosco versteht dieses „Historikergerede“ um die Mailänder Herkunft von Caravaggio nicht. Doch der Handwerker und Techniknarr will weniger die Geburtsfrage klären, als den großen Sohn des Städtchens gleichsam heimführen. Den Anstoß hatten Berichte gegeben, nach denen der englische Künstler und Restaurator Adam Lowe mit einer neuen Technik ein faszinierendes Faksimile des monumentalen Gemäldes „Die Hochzeit zu Kana“ (1563) von Paolo Veronese, das heute im Louvre hängt, herstellen konnte. Mit einer ausgeklügelten Lasermethode hatten Lowe und seine Mitarbeiter des spanischen Unternehmens Factum Arte im Auftrag der Fondazione Cini aus Venedig das Gemälde digitalisiert, wobei jeder Quadratmeter mit einer Million Lichtpunkten abgetastet wurde.
Die Daten wurden in eine Art Drucker eingegeben, der das Bild in mehreren Phasen mit zu Veroneses Zeit bekannten Farbenstoffen auf eine ebenso grundierte Leinwand im Verhältnis eins zu eins übertrug. In einem letzten Arbeitsgang nahmen Lowe und seine Restauratoren dann eine Feinabgleichung vor. Das Faksimile, geradezu ein Klon, wurde vor ein paar Jahren im Refektorium des Klosters S. Giorgio Maggiore in Venedig, aus dem Napoleon das Originalbild hatte entführen lassen, aufgestellt. Kritik und Öffentlichkeit waren begeistert. Mit bloßem Auge konnte man keinen Unterschied mehr zwischen Original und Klon entdecken.
Ein Mittelsmann zwischen der Gemeinde und der Fondazione Cini
Silvio Bosco ging zum Bürgermeister. Wäre das nicht eine Chance, Caravaggio nach Caravaggio zu holen und so auch Besucher in diese Stadt zu locken, wo es mehrere hübsche Kirchen, mit Fresken geschmückte Kapellen und einen alten Ortskern mit romantischen Winkeln gibt? „Vielleicht“, sagte der Bürgermeister, „verfolge das mal.“
Seitdem spielt Silvio Bosco mit unermüdlichem Elan und durch nichts zu erschütterndem Optimismus zwischen der Gemeinde Caravaggio, der Fondazione Cini und Factum Arte den Mittelsmann. Mit der aufgelassenen Kirche San Giovanni, wo einst die Eltern von Michelangelo Merisi geheiratet hatten, wurde ein Ausstellungsort gefunden. Dort sollten außerdem Räume für ein Wissenschaftszentrum der Caravaggio-Forschung unter der Aufsicht der Fondazione Cini entstehen.
Adam Lowe hat schließlich die drei um 1600 entstandenen Caravaggio-Bilder des „Matthäus-Zyklus“ in der römischen Kirche S. Luigi dei Francesi digitalisiert und die Faksimiles hergestellt, die heute in San Giovanni, der „Casa Caravaggio“, wie Silvio die Einrichtung getauft hat, zu besichtigen sind. Aber leider nur nach Voranmeldung beim örtlichen Tourismusbüro Pro Loco oder in der Woche um den Geburtstag von Caravaggio am 29. September, wenn San Giovanni täglich geöffnet hat. Es ist ein Erlebnis, wenn man vor diesen riesigen originalgroßen Bildern in der alten Sakristei der Kirche steht und ihnen auch ganz nahe kommen darf. Nichts, gar nichts unterscheidet sie optisch von den Originalen in Rom – wenn man von dem Ambiente des Ortes, für den sie gemalt wurden, absieht. Ja, das Ambiente – den Bildern fehlt natürlich die Aura der römischen Kapelle. Kunsthistoriker rümpfen mit der Nase. Ist das alles nicht nur Schaumschlägerei?
120 000 Euro für drei Kopien?
Die Bewohner der Kleinstadt haben sich wenig um die Angelegenheit gekümmert. Kultur ist auf dem Wochenmarkt und in der Bar Centrale gegenüber vom Rathaus eigentlich kein Thema. Hier und da ist Unmut aufgekommen wegen der Finanzen. 120 000 Euro hat sich die Gemeinde bislang allein die Zusammenarbeit mit Factum Arte kosten lassen. Dazu kommen die Gelder für die Umbauten in San Giovanni. 120 000 Euro für drei „Kopien“? Hätte man das nicht billiger haben können?
Sindaco Giuseppe Prevedini lässt sich erst mal nicht beirren. Handelt es sich doch um viel mehr als um „Kopien“. Doch für weitere Investitionen hat die kleine Gemeinde keine Finanzmittel. So bleibt auch das kleine Wissenschaftszentrum bislang nur ein Plan auf Papier. Und die Gemeinde verschweigt sogar auf ihrer Homepage den Schatz, den sie sich für viel Geld in San Giovanni an die Wand gehängt hat. So als schäme man sich plötzlich, in Kultur investiert zu haben.
Hoffen auf bessere Zeiten
Silvio Bosco hofft auf bessere Zeiten und träumt derweil davon, noch mehr Caravaggio-Arbeiten nach Caravaggio zu bringen, vielleicht sogar Klone von allen rund 60 bekannten Arbeiten des Michelangelo Merisi. Dafür müsste man doch Sponsoren gewinnen können. Das wäre ein Museum, das es auf der ganzen Welt noch nicht gibt. Schwärme von Touristen würden dann um den Ort kreisen – mehr noch als heute Schwalben um die Kuppel des Santuario. Von der kann man bei klarer Sicht auf einem Hügel im Norden die Altstadt von Bergamo liegen sehen. Der Flughafen der Stadt bei Orio sul Serio, der von Ryanair angeflogen wird und sich – nur 50 Minuten mit dem Bus von Mailand entfernt – nach Malpensa und Linate mit knapp neun Millionen Passagieren im Jahr zum dritten Flughafen der lombardischen Metropole entwickelt hat, nennt sich seit Kurzem „Il Caravaggio“.