Giorgio Diritti hat mit „L’uomo che verrà“ einen wichtigen Film gedreht, den in Deutschland niemand zeigen will
Mailand (Cinema Anteo ,2010) – Nach den Erfolgen von Matteo Garrones „Gomorra“ und Paolo Sorrentinos „Divo“ hätte man sich eine neue Welle von italienischen Filmen über die sozialen und politischen Probleme des Landes erwarten können. Arbeiten über aktuelle Skandale und ungelöste Fragen der Geschichte – Themen an denen es ja nicht mangelt. Doch das Jahr 2010 steht ganz im Zeichen des Privaten. Es geht um Liebhaber oder Verlobte, um Mütter oder Töchter. Gabriele Muccino etwa sucht mit „Baciami ancora“ (Küss mich noch mal) den Erfolg früherer Gefühlsstreifen zu wiederholen. Giovanni Veronesi gelingt es immerhin in „Genitori e figli“ (Eltern und Kinder), den Generationskonflikt seriös zu thematisieren. Und Gabriele Salvatores hat gerade die Kinoadaption des Theaterstückes „Happy Family“ heraus gebracht, in der es um zwei Familien geht, die sich damit auseinandersetzen müssen, dass ihre kaum 16jährigen Kinder einander heiraten wollen. Hat das Land keine anderen Sorgen?
Deutsches Morden
Ein Film liegt quer zum Mainstream: „L’uomo che verrà“ (Der Mensch, der kommen wird) von Giorgio Diritti. Zwar thematisiert der Film auch eine private Geschichte, denn erzählt wird die Zeit einer Schwangerschaft der jungen Bergbäuerin Lena im Gebiet des Monte Sole nicht weit von Bologna. Aber der Hintergrund ist dramatisch. Es herrscht Krieg. Deutsche Truppen haben Italien besetzt. Widerstandsgruppen operieren von schwer zugänglichen Bergregionen aus. Einheiten der SS führen Vergeltungsaktionen gegen die Zivilbevölkerung aus. In der Nacht zum 29. September 1944, in der Lena ihr Kind zur Welt bringt, beginnt im Gebiet des Monte Sole rund um den Ort Marzabotto die vielleicht widerlichste Aktion des Zweiten Weltkrieges auf italienischem Boden, bei der rund 770 Menschen, vor allem Frauen, Kinder und Greise, brutal ermordet und ihre Häuser und Kirchen schamlos zerstört werden.
Giorgio Diritti hat einen Film darüber gedreht, wie der Krieg in den Alltag der Menschen dringt, ihre Häuser besetzt, ihre Gedanken beschwert und ihr Leben vergiftet. Die Geschichte, so der Regisseur im Gespräch, sei nicht nur eine Abfolge von Daten und Ereignissen, wie wir sie aus den Büchern kennen. Die wahre Geschichte sei doch die der einzelnen Personen, „eine Folge von Ereignissen, die das täglichen Leben beeinflussen.“ Das Private, das öffentlich wird.
In der Großaufnahme Gefühle ausloten
Der Film erzählt die Handlung aus der Sicht eines achtjährigen Mädchens, der Schwester des Neugeborenen, und macht so die kindliche Neugier und Verwunderung zum Motor der Geschichte. „Warum konnten die Deutschen nicht zu Hause bleiben und mit ihren Kindern spielen“, fragt sich Martina, die kleine Hauptdarstellerin (Greta Zuccari Montanari). Giorgio Diritti setzt dabei Berufsschauspieler (etwa Maya Sansa oder die Deutsch-Italienerin Alba Rohrwacher) ebenso ein wie Laiendarsteller aus den Apennindörfern. Er entdeckt Gesichter, auf denen man allein durch eine Großaufnahme Gefühle ausloten und Bodenständigkeit entdecken kann. Und er lässt seine Darsteller den Dialekt der Einwohner rund um den Monte Sole sprechen, so dass der Film fürs Publikum auf weiten Strecken italienisch untertitelt werden muss.
Der 51jährige Giorgio Diritti, ein Schüler und Mitarbeiter von Ermanno Olmi, hat diese Technik bereits in einem seinem ersten größeren Spielfilm „Il vento fa il suo giro“ (Der Wind zieht seinen Weg – siehe SZ vom 22.5.2008) erprobt, bei dem es um Fragen des Zusammenlebens von Einheimischen und Fremden in einem piemontesischen Bergdorf ging. Diese Arbeit, die außerhalb der Erstaufführungskinos allein durch Mundpropaganda zu einem Publikumserfolg wurde, gab Diritti die finanziellen Mittel, um in einer Koproduktion mit der Rai Cinema „L’uomo che verrà“ herzustellen.
Die Werte des Widerstands
Der Film (ausgezeichnet u.a. auf dem vergangenen römischen Filmfestival) kam Ende Januar in die Kinos und ist hier und da heute noch zu sehen. Denn er behandelt ein Kapitel deutsch-italienischer Geschichte, dessen Wunden vernarbt aber nicht vergessen sind. Im April 2002 trafen sich die damaligen Staatspräsidenten Johannes Rau und Carlo Emilio Ciampi in Marzabotto, um die Opfer und ihre Angehörigen zu ehren. Jedoch ist die Rolle des Widerstands im Berlusconi-Italien in die Diskussion geraten. Wurde er in den ersten Nachkriegsjahren oft glorifiziert, versucht die politische Rechte ihn heute als zwielichtige Bürgerkriegserscheinung herunterzuspielen oder moralisch wie patriotisch mit den Soldaten von Mussolinis Sozialrepublik (1943/45) auf eine Stufe zu stellen. Diritti zeichnet in seinem Film ein durchaus differenziertes Bild der Widerstandsbewegung, ohne sie jedoch zu denunzieren. Die „Werte des Widerstands“, so der Regisseur, seien heute noch aktuell. Schließlich sei es die Resistenza gewesen, „die in Italien den demokratischen Gemeinsinn verwurzelt hat.“
Wie eine Zeitmaschine versetzt der Film seine Zuschauer mit Bildern, Stimmungen, Zwischentönen in die Kriegsjahre zurück. Die Deutschen, die vielleicht passagenweise ein bisschen klischeehaft dargestellt werden, waren 1944 die Fremden. Fremd wie ihre Sprache, die nicht übersetzt und auch nicht untertitelt wird. „L’uomo che verrà“ ist ein Film für das italienische Publikum, der auch das deutsche angeht. Doch bislang hat sich noch kein deutscher Verleih, auch kein Fernsehsender, dafür interessiert. Giorgio Diritti hofft wenigstens auf einen Start beim Münchener Filmfest. In Italien ist er gerade in 16 (!) Sparten (von der des besten Films über Regie, Kamera, Schnitt bis zum Originalton) für den David, den Filmpreis des Landes, nominiert worden. Und es würde anderen engagierten Filmemachern und Produzenten Mut machen, wenn er in der einen oder anderen Sparte die privatisierende Regie-Elite des Landes auf die Plätze verweisen könnte.
Veröffentlicht in der Süddeutsche Zeitung am 12.4.2010