DAS SPERRIGE LEBEN


Valeria Parrella erzählt in ihrem beeindruckenden kleinen Roman „Versprechen kann ich nichts“ von Almarina, einer jugendlichen Strafgefangenen in Neapel, und ihrer Lehrerin Elisabetta, die ihr eine Zukunft schenken möchte

© Wikipedia

„Nisida liegt dort draußen vor Anker“ – Blick auf das Castello vom Meer aus

Mailand/Neapel – Das ist die Geschichte einer Liebe zwischen einer 50jährigen Frau und einem 16jährigen Mädchen. Eine, wenn man so will, Mutter-und-Tochter-Beziehung, die immer auch eine Beziehung zwischen zwei Frauen ist. Die kinderlose Ich-Erzählerin Elisabetta, die nur schwer den plötzlichen Tod ihres Ehepartners überwindet, lebt in Neapel und unterrichtet Mathematik in einem Jugendgefängnis, das auf der kleinen Insel Nisida  unterhalb von Posillipo liegt, die mit dem Festland über einen Damm verbunden ist. Eines Tages sitzt eine Neue in der Klasse, Almarina, die mit ihrem kleinen Bruder aus Rumänien floh, wo sie von ihrem Vater vergewaltigt und misshandelt worden war.

In Italien werden die Geschwister getrennt, wegen eines Bagatellvergehens wird Almarina zu einer dreimonatigen Jugendstrafe verurteilt und soll anschließend in ein Heim eingewiesen werden. Elisabetta, die Almarina über die Weihnachtstage zu sich nach Hause mitnehmen darf, versucht, vor Gericht das Sorgerecht für sie zu erstreiten. „Almarina ist mir einfach ans Herz gewachsen“, erklärt sie dem Gefängnisdirektor. In ihr erkennt sie sich selbst als Heranwachsende wieder.

© Valeria Parrella/Hanser Verlag

Valeria Parrella, geboren 1974

Die Autorin Valeria Parrella lebt in Neapel. Von ihr sind auf Deutsch bei Hanser (2015) ein Band mit Erzählungen (Liebe wird überschätzt) und bei Folio (2018) ein Roman (Enzyklopädie der Frau. Update) erschienen. Zusammen mit anderen Schriftstellerinnen und Schriftstellern hatte die heute 46jährige vor einigen Jahren im Jugendgefängnis von Nisida einen Schreib- und Theaterkurs organisiert (wie Jahre zuvor der große Eduardo De Filippo). Fragmente von Arbeiten der Schüler finden sich auch in dem kleinen Roman „Almarina“ (Einaudi 2019) wieder, der jetzt auf Deutsch unter dem Titel Versprechen kann ich nichts bei Hanser in der Übersetzung von Verena von Koskull vorliegt.

Ein intimer Text

Das ist ein relativ kurzer, dabei aber ganz dichter, intimer Text, der den Leser gleich von den ersten Zeilen an in den Bann zieht. Elisabetta erzählt mit einer warmen und zugleich rauen Stimme von sich, von ihren Eindrücken, Gefühlen, Erinnerungen, Ideen, Träumen, Zweifeln. Man wird in einen Strudel von Situationen, Szenen, Gedanken gerissen. Die Themen überschlagen sich: Trauer, Abtreibung, unerfüllte Kinderwünsche, Familientrennung, Camorra, Gewalt, Gefängnis, Mathematik, Schwimmen im Meer – kurz „das sperrige Leben“.

Es geht um Almarina, um ihre Freude an der Botanik und ihren Traum, Ärztin zu werden. Aber es geht auch allgemein um die Jugendlichen, denen Elisabetta in Nisida Unterricht gibt und um die, die sie „draußen“ erlebt. „Draußen gibt es Kinder, weggeschmissen wie ein Wurf Kätzchen, und Jugendliche, die auf den Gleisen der Circumvesuviana fixen, ehe der Elf-Uhr-Express kommt, und die Frau im Morgenmantel, die im Tabakladen auf dem Hocker sitzt und auf den Wettmonitor stiert.“ Aber es geht vor allem um Elisabetta selbst „auf der Suche nach einem anderen Zustand, auf den man sich einlassen kann.“

Die Stadt vor der Stadt

Und es geht um Neapel, um das Chaos in einer schwierigen, traurig schönen, liebens- und lebenswerten Stadt. Manches sind nur Stichworte, die man entziffern kann, oder auch nicht: das ehemalige Stahlwerk Bagnoli etwa und „die Chinesen“. Dabei gehört die Stadt zu den wenigen Sicherheiten von Elisabetta: „Eine einsame Tasse auf dem morgendlichen Tisch ist kein ausreichender Grund, um aufzuwachen, Neapel schon.“ Und es folgt eine wunderschöne Beschreibung einer Autofahrt durch das morgendliche Neapel, bevor es richtig wach wird. „Die Stadt vor der Stadt gehört mir allein und ist so, wie ich es will.“

Das ist trotz des sperrigen Lebens kein pessimistisches Buch, denn die in vielen Kreisen sich bewegende Erzählung kommt immer wieder auf Almarina zurück, der Elisabetta eine Zukunft geben möchte. Das Ende bleibt offen.

Aber warum der deutsche Titel „Versprechen kann ich nichts“? Sicher, er bezieht sich auf einen Satz von Almarina am Ende des Buches, ein Satz der zum Wesen einer wahren Liebe gehört: Liebe kann nichts versprechen, nur sein. Aber als Titel eines Buches klingt er doch eher nach Groschenroman. Almarina, so wie der Titel ganz einfach auf Italienisch lautet, hat dagegen einen Klang, einen warmen Doppelklang, Alma und Marina, der nach Neapel führt, nach Nisida ans Meer, zu einem 16jährigen Mädchen aus Rumänien, ins Herz von Elisabetta – und zu Valeria Parrella.

Valeria Parrella: Versprechen kann ich nichts. Aus dem Italienischen von Verena von Koskull. Carl Hanser Verlag, München 2021. 144 Seiten, 19 Euro

Hier zu einem Interview mit Valeria Parrella in La Repubblica TV (16.4.2019)

(PS Zur Übersetzung eine Petitesse: es gibt keine „Espressokanne“ – die „macchinetta“, in der Kaffee aufgesetzt wird, ist eine „moka“ [Mokakanne], oder, was man dann erklären müsste, eine „caffettiera napoletana“. Aber es ist bei verschiedenen Übersetzungen Mode geworden, den in Italien zuhause auf dem Herd aufgesetzten Kaffee „Espresso“ zu nennen – vielleicht weil das in deutschen Ohren eher „typisch italienisch“ klingt.)