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100 Jahre Leonardo Sciascia (2): Die essayartige Erzählung „Tod des Inquisitors“ endlich auf Deutsch in dem Band „Ein Sizilianer von festen Prinzipien“

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„Coraggio – Mut“ – Graffiti von Gefangenen im Kerker des Gerichts der Inquisition im Palazzo Chiaramonte-Steri von Palermo

Mailand – Das ist ein wohl komponiertes Buch, das zum 100. Geburtstag von Leonardo Sciascia zwei seiner bislang noch nicht ins Deutsche übersetzten Texte mit einem hintergründigen Porträt Sciascias von der Literaturkritikerin Maike Albath sowie einer Anmerkung von Santo Piazzese, Schriftsteller von Kriminalromanen aus Palermo, verbindet. Im Zentrum steht der Text Morte dell’inquisitore („Tod des Inquisitors“) aus dem Jahr 1964/67. In ihm erzählt Sciascia eine Geschichte aus dem 17. Jahrhundert, die Geschichte vom Leben und Sterben des Augustinermönchs Diego La Matina, der wie Sciascia aus dem kleinen Ort Racalmuto bei Agrigent stammte.

Mehrfach von der Inquisition verfolgt und festgesetzt, mehrfach wieder freigelassen, schließlich in Galeerenhaft gesteckt und gefoltert starb La Matina 1658 in Palermo auf dem Scheiterhaufen. Im Jahr zuvor hatte er seinen Peiniger, den Inquisitor Juan López de Cisneros, der ihn, wie es in einem Dokument heißt, „zum Wohle des Gefangenen“ in seiner Zelle besuchte, mit seinen Handschellen erschlagen.

Sciascia versucht das Leben des rebellischen Mönchs aus seiner Heimatstadt mit Hilfe historischer Zeugnisse zu rekonstruieren, auch wenn die Dokumentanlage dürftig bleibt. Er beschreibt ihn als einen Mann, der sich um die sozialen Sorgen seiner ärmsten Mitbürger gekümmert hatte und bis zum Tod auf dem Scheiterhaufen „die Würde des Menschen hochhielt“, wie es im Schlusssatz heißt. Die historische Erzählung ist zugleich eine Reflektion über die Spanische Inquisition auf Sizilien (1479 – 1782) und die Machtstrukturen, die bis in die Gegenwart reichen. Gegenwart, so die eindringliche Botschaft, ist ohne Geschichte nicht zu fassen. Wer über heute schreibt, muss auch die Botschaften entziffern und bewahren, die die Gefangenen in die Wände ihrer Zellen des Inquisitionsgerichts im Palazzo Chiaramonte-Steri von Palermo geritzt hatten.

Die ewige Inquisition

Dass Folter und Willkür auch Teil unserer Zeitgeschichte sind, belegt der zweite, eher journalistische Text Sciascias von 1985 in diesem Band über einen Mitläufer Pinochets („Der Mann mit der Sturmmaske“). Dieser, ein ehemaliger Sozialist, hatte versteckt hinter einer Gesichtsmaske in dem Fußballstadion von Santiago de Chile, wo die Putschisten ein riesiges Gefangenenlager eingerichtet hatten, gezielt auf ehemalige Genossen gezeigt und sie mit dieser Geste Folter und Tod preisgegeben. Über den „Terror der Denunziation ohne Gesicht“ schreibt Sciascia: „Man wollte mit Vorbedacht und makabrem Scharfsinn das Gespenst der Inquisition heraufbeschwören, das einer jeden Inquisition, das der ewigen und immer raffinierteren Inquisition.“

Der „Tod des Inquisitors“, zwanzig Jahre zuvor verfasst, enthält als historische Erzählung durch Spurensuche in der Vergangenheit und durch Spurendeutung, Bewertung von historischen „Indizien“ gleichsam literarisch-kriminalistische Elemente, schließt aber ebenso einen Aufruf zum Erhalt der Zellen im Palazzo Chiaramonte-Steri ein. Der Text ist „eine Art Schichtengebilde“ (Maike Albath), mit dem der Autor auch gegen Legendenbildung und Geschichtsklitterung anschreibt. Etwa die in dem volkstümlichen Roman von Luigi Natoli „Fra Diego La Matina“ (1923), wo Ereignisse jener Jahre wild durcheinander geworfen und mit einer sentimentalen Handlung zur Ehrenrettung von Frauen verbunden werden. Für eine Neuausgabe dieses Romans bei Flaccovio Editore schrieb Sciascia später dann ein Vorwort.

Eine innere Verbundenheit

Morte dell’inquisitore (1964) veröffentlichte der Autor leicht überarbeitet (1967) in einem Band zusammen mit den kleinen Erzählungen Le parocchie di Regalpetra (dt: „Salz, Messer und Brot“). Diese, 1956 entstanden, beschreiben das Leben in einem sizilianischen Dorf, in dem man den Heimatort von Leonardo Sciascia und ihn als Schullehrer erkennen darf. Mit ihnen betrat er gleichsam die Bühne der literarischen Öffentlichkeit. Die Nähe der beiden Texte in einer Ausgabe unterstrich die innere Verbundenheit des Autors mit ihnen. In dem Vorwort zur gemeinsamen Ausgabe heißt es über den „Tod des Inquisitors“:

„Diese essayartige Erzählung über ein Ereignis und eine Person der sizilianischen Geschichte, die fast vergessen sind, ist mir das Teuerste von allem, was ich geschrieben habe, und das Einzige, was ich immer wieder lese und worüber ich mir den Kopf zerbreche.“

Leonardo Sciascia: Ein Sizilianer von festen Prinzipien. Essayistische Erzählungen. Mit Texten von Maike Albath und Santo Piazzese. Aus dem Italienischen von Monika Lustig (unter Verwendung einer Übersetzung von Michael Kraus). Edition Converso, Bad Herrenalb 2021. 192 Seiten, 23 Euro

Hinweis: Im Verlag Klaus Wagenbach, Berlin, ist gerade von Leonardo Sciascia „Einmal in Sizilien erschienen (144 S., 18 Euro). Das ist eine (gekürzte) Wiederauflage unter neuem Titel der Übersetzung von Sigrid Vagt von Le parocchie di Regalpetra, die zuerst 2002 als „Salz, Messer und Brot“ bei Zsolnay herausgekommen war.

Siehe auch auf Cluverius: 100 Jahre Leonardo Sciascia (1): Die müde Demokratie Sowie Sciascia (3): Ein auf Straßen wandernder Spiegel