Eine Ausstellung im Mailänder Palazzo Reale (16.4.-19.7. 2015)
Mailand und Leonardo, das ist eine Erfolgsgeschichte, die über zwei Jahrzehnte lang dauerte. Mit 29 Jahren verließ Leonardo da Vinci seine heimatliche Toskana und ging im Jahr 1481 an den Hof von Ludovico Sforza, wo er vor allem als Ingenieur, Erfinder und Architekt Maschinen, Waffen und Festungsanlagen entwickelte und sich mit wissenschaftlichen Fragen von der Biologie bis zur Mathematik auseinandersetzte. Er war zudem als Musiker und Ausrichter von Festveranstaltungen höchst geschätzt. Aber auch als Maler und Bildhauer vermehrte er den Ruhm seines Herren – und seinen eigenen, wie etwa die ungeheure Nachwirkung der Darstellung des Abendmahls belegt. In den kriegerischen Wirren der Renaissancezeit verließ Leonardo Mailand 1499, kehrte aber nach Aufhalten in Mittelitalien für gut sechs Jahre wieder dorthin zurück.
Nach einem Romaufenthalt zog er schließlich nach Frankreich, wo er 1519 in Cloux nahe der Residenz des französischen Königs starb. Mailand feiert ihn jetzt in einer großen Ausstellung mit über 200 Exponaten – Gemälde, Skulpturen, besonders aber Zeichnungen und Skizzen. Angeblich ist das die größten Ausstellung, die je über das Universalgenie in Italien veranstaltet wurde. Anders als diejenige vor drei Jahren in London, die sich vor allem spektakulär mit der Gegenüberstellung von Gemälden wie den beiden Fassungen der „Felsengrottenmadonna“ beschäftigt hatte, versucht die Mailänder Schau den vielfältigen Interessen Leonardos Rechnung zu tragen und das Genie in seine Zeit einzubetten.
Wenn von Leonardo die Rede ist, taucht in den gedruckten Medien meist das Bildnis eines alten Mannes mit wirren Haaren, wallendem Bart und einem melancholischen Blick auf. Diese populäre Zeichnung, die in Turin aufbewahrt wird, gilt in der Öffentlichkeit als „Selbstbildnis“ aus dem Alter des genialen Künstlers, Erfinders und Wissenschaftlers. In der Mailänder Ausstellung sucht man sie jedoch vergeblich, denn die Zeichnung zeigt nach Meinung vieler Kunsthistoriker nicht Leonardo. Pietro Marani:
„Wir haben nicht einmal um eine Leihgabe gebeten. Das hätte nur die Konfusion erhöht. Es handelt sich vermutlich um eine Studie für die Apostel des Abendmahls. Der Stil dieser Zeichnung ist der Stil der 1490er Jahre. In der Ausstellung hier beschäftigen wir uns ausführlich mit der Entwicklung des Stils in den Zeichnungen von Leonardo. Er beginnt sehr florentinisch, ganz klar, genau, perspektivisch, meist mit Rötelstift wie in dem Turiner Bildnis, arbeitet dann aber im Alter malerischer, abgetönt mit Kohlestift oder schwarzem Bleistift, was eben die malerische Seite erhöht.“
Das „disegno“ als Leitmotiv
Der Kunsthistoriker Pietro Marani hat zusammen mit seiner Kollegin Maria Teresa Fiorio die Ausstellung im Palazzo Reale eingerichtet. Produziert wurde sie für 4,5 Millionen Euro von dem Kunstbuchverlag Skira in Zusammenarbeit mit der Mailänder Stadtverwaltung. Doch hat sie nicht nur die Mailänder Jahre, sondern die Figur des ganzen Leonardo im Blick, der 1452 in Vinci geboren wurde und 1519 mit 67 Jahren am Hof des französischen Königs starb. In zwölf Abteilungen präsentieren die Kuratoren Themen von Leonardos Verhältnis zur Skulptur bis zum Verständnis der Antike, vom Umgang mit der Natur bis zu utopischen Träumen, von anatomischen Studien bis zu Erfindungen von Maschinen und Geräten. Leitmotiv ist dabei die Zeichnung, das „disegno“. Das italienische Wort bedeutet auch Umriss oder Entwurf und ist ein Schlüsselbegriff der Renaissance. Maria Teresa Fiorio:
„Die Zeichnung, die Skizze ist vielleicht der Teil, der am besten das Denken von Leonardo widerspiegelt. Sie ist sein Untersuchungsinstrument. Der erste Formulierung eines Problems erfolgt mit der Zeichnung. Wir haben der Ausstellung den Untertitel ‚Il disegno del mondo – Der Entwurf der Welt’ gegeben, um zu unterstreichen, wie wichtig die Zeichnung für Leonardo war.“
Leonardos schier unersättliche Neugier
Die über 100 zeichnerischen Blätter der Ausstellung stammen etwa aus der königlichen Sammlung von Windsor oder vom Codex Atlanticus der Mailänder Biblioteca Ambrosiana. Zu sehen sind aber auch bedeutende malerische Arbeiten von Leonardo wie die „Belle Ferronnière“ oder der „San Giovanni Battista“ aus dem Louvre, der „San Gerolamo“ aus dem Vatikan oder die „Madonna Dreyfuss“ aus Washington. Diese spektakulären Gemälde sind zusammen mit Referenz-Bildern etwa von Botticelli, Filippino Lippi oder Ghirlandaio geschickt in den Fluss der Erzählung eingewoben, ebenso wie Skulpturen aus der Werkstatt des Verrocchio, in der Leonardo sein Handwerk gelernt hat. Ausführlich beschäftigt sich die Ausstellung auch mit dem Versuch des Künstlers, für Herzog Ludovico ein riesiges Reiterstandbild aus Bronze zu gießen, bei dem allein das Pferd sieben Meter hoch sein sollte. Die Arbeit kam nicht über ein Tonmodell hinaus, das dann in den Kriegswirren an der Wende zum 16. Jahrhundert zerstört wurde.
Die Beschäftigung mit technischen Abläufen und Problemen, die sich besonders in den Zeichnungen und Notizen des Codex Atlanticus niederschlägt, legt eine schier unersättliche Neugier Leonardos offen. Es handelt sich vom Fluggerät bis zum gepanzerten Kriegswagen allerdings um Themen, die in jener Zeit bereits diskutiert wurden. Leonardo hat sie also nicht aus der Luft gegriffen, aber oft überraschend erweitert. Bis hin zum Traum, auf dem Wasser „gehen“ zu können. Seine Notizen und Skizzen, so Pietro Marani, blieben dann jedoch über zwei Jahrhunderte lang völlig unbeachtet, während die Themen, mit denen er sich auseinander gesetzt hatte, von anderen neu formuliert und weiter entwickelt wurden.
„Leonardo hat weit voraus sehen können. Aber nur in ganz wenigen Fällen kann man eine Verbindungslinie zwischen seinen Erfindungen und dem technologischen Fortschritt im Allgemeinen ziehen.“
Vielleicht hilft ja die klar strukturierte und präzise argumentierende Ausstellung uns wieder mehr mit dem realen Leonardo und seinen vielseitigen Interessen zu beschäftigen, als mit unseren eigenen Vorstellungen von einem Genie, das angeblich seiner Zeit voraus war.
Katalog: Skira (englisch/italienisch) 69 Euro
(Erstveröffentlichung im Deutschlandfunk „Kultur heute“ am 16.4.2015)