DER SCHNEIDER VON FERRARA


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Unter den Arkaden von Ferrara

Carl Wilhelm Macke:
Auf der Suche nach den kleinen Dingen

Ich suchte unlängst in Ferrara nach einem Schneider. Mit dem Fahrrad hin und her durch die Gassen des Centro Storico fahrend, fand ich endlich eine kleine Werkstatt in der Via Ripagrande. Ich fragte den Schneider, ob er an meiner Jacke eine kleine Reparatur vornehmen könne. Höflich, aber auch etwas geschäftsmäßig kühl, begann er sofort mit seiner Arbeit. Während er die Jacke in die Hand nahm, ließ ich meine Augen durch den kleinen Raum schweifen. Überall erblickte ich Kassetten, unendliche viele Kassetten. Bis hoch an die Decke stapelten sie sich, gut nach dem Alphabet geordnet.

Ob dies alles Musikkassetten seien, wollte ich von ihm wissen. Natürlich würde er auch Musik hören. Immer noch zeigte er mir gegenüber eine fast kühle Reserviertheit. Aber seine Zunge löste sich langsam. Bach, nicht Verdi, sei für ihn der Größte. Wenn Fournier die Cello-Fugen spielen würde, sei ihm der Himmel nahe. Und bei dem 2. Satz in der Siebten von Beethoven, könne er nicht mehr weiterarbeiten. Da würde er immer zu Tränen hingerissen. Da er eine besonders langsame Einspielung von Furtwängler besonders liebe, würde er dann auch immer besonders lange von der Arbeit abgehalten.

Die Stimme von Ernst Bloch
Die Mehrzahl der Kassetten seien jedoch Literaturrezitationen. Und tatsächlich fielen mir erst jetzt die Namen auf den Rückseiten der Kassetten auf: Dante, Petrarca, Boccaccio, Leopardi, Manzoni, Calvino, Sciascia, Bassani. Natürlich, den schätze er als Ferrarese ganz besonders. Am meisten aber liebe er Schnitzler. Casanovas Heimfahrt habe er wohl schon dreißig Mal gehört. Dann zeigte er mir eine Sammlung mit philosophischen Texten, die er selber aufgenommen habe. Platon, Marc Aurel, griechische, römische Philosophen ohne Ende. Immer wieder höre er die Stimme des deutschen Philosophen Ernst Bloch. Er verstehe zwar nicht die deutsche Sprache, aber er liebe die Stimme von Bloch nun mal.

Ich glaubte ihm dieses Bekenntnis nicht. Eine etwas zu offensichtliche Verbeugung vor dem deutschen Kunden. Aber er zeigte mir die entsprechende Kassette und ließ sie mich hören. Zweifellos, er hatte recht. Hinter seinem Schneidertisch lag immer griffbereit Dantes „Divina Commedia“. Er legte eine Kassette ein und für einen kurzen Moment hörten wir der wunderbar baritonalen Stimme von Vittorio Gassmann zu. Dann schaltete der Schneider das Gerät ab und begann selbst Dante zu rezitieren. Nicht nur einen Vers, nein, er schien tatsächlich einige Gesänge auswendig gelernt zu haben. Alle Nicht-Italiener seien zu bedauern, weil sie Dante nur in einer Übersetzung kennen. Aber Dante könne man nicht übersetzen.

Der Zauberer vom Po
Als er langsam mein erstauntes Interesse an seinen ungewöhnlichen Leidenschaften bemerkte, sprudelte es aus ihm immer mehr heraus. Von Zeit zu Zeit entschuldigte er sich bei mir mit ausgesuchter Höflichkeit für seine vielen Erzählungen, um dann sofort mit dem Reden fortzufahren. Der Knopf war längst an meine Jacke angenäht, aber der Schneider erzählte und erzählte, als hätte sich schon seit Jahren kein Kunde mehr für seine Liebe zu gut sitzenden Anzügen und das Versmaß bei Dante interessiert. Während er mir voller Stolz eine von ihm geschneiderte Hose zeigte, fragte er mich, ob ich den Roman „Die Mühle am Po“ von Riccardo Bacchelli kennen würde. Da sei doch an einer Stelle von einem Zauberer Chiozzi die Rede. Ich musste gestehen, dass ich mich an diese Nebenfigur in dem großen Roman von Bacchelli nicht mehr erinnern würde. Der Schneider rief mir diese Figur kurz in Erinnerung. Am Anfang des 18.Jahrhunderts habe Chiozzi die Menschen in den Dörfern entlang des Po verzaubert. Und über diesen Zauberer habe er nun jahrelang in seiner Freizeit geforscht. Alles was er über die Existenz dieses Zaubers finden konnte, habe ihn wie magisch elektrisiert. Jetzt habe er endlich seine Geschichte dieser Nebenfigur im Roman von Riccardo Bacchelli geschrieben. Da ich doch die italienische Sprache verstehen würde, möchte er mir gerne den Text geben, den er über jenen Bartolomeo Chiozzi verfasst habe.

Draußen war es längst dunkel geworden und ich wollte ihm endlich meinen Auftrag bezahlen. Er aber winkte nur ab. Nein, nein, es sei schon gut. Er sei sehr glücklich gewesen, einem Kunden einmal von seiner Liebe zur Musik und zur Literatur erzählen zu können. Das interessiere doch heute von seinen Kunden niemanden mehr. Und auch sein Handwerk als Schneider habe in unserer Zeit der Konfektionswaren keine Zukunft mehr. Etwas traurig zeigte er mir ein Sakko, das er gerade reparieren würde. Tutto confezionato. Sprachlos verließ ich die Werkstatt des Schneiders in der Via Ripagrande von Ferrara. Man achte mehr auf die kleinen Dinge…