DIE EICHE VON MONTALE


Es ist berührend, beim Sterben eines Baumes dabei zu sein. Im Kreislauf des sich erneuernden Lebens der Natur. Auch in der Stadt.

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Zusehen wie ein Baum verwest – Die „Eiche von Montale“ in den Giardini Pubblici 

Mailand – In den Giardini Pubblici stand eine mächtige Eiche, zehn Meter hoch mit einem Stammumfang von fast fünf Metern, einer der ältesten Bäume des 1780 in Mailand angelegten Stadtparks. Eine Quercus rubra (Roteiche), die ursprünglich aus Nordamerika stammt und mit dem 18. Jahrhundert auch in Europa angesiedelt wurde. Pilze und Ungeziefer hatten ihren Rumpf befallen und Krankheiten die Kräfte ihre Äste geschwächt. Gegen Ende konnte sie nur noch von Eisenträgern gehalten aufrecht stehen. Im Oktober 2019 brach sie, von Vandalismus zusätzlich geschwächt, bei einem Herbststurm zusammen. Sie hatte am Rand einer teils offen liegenden, teils von Bäumen umgebenden Wiese nicht weit vom östlichen Zugang des Parks bei der Porta Venezia entfernt gestanden. Man nannte sie La quercia di Montale – „Die Eiche von Montale“.

„Du hast einem Baum meinen Namen gegeben?“ Es ist eine Art Liebesgedicht, das Eugenio Montale in seinen Madrigali privati 1956 veröffentlichte. Oder besser gesagt ein Gedicht über einen verliebten Baum, das mit den Zeilen beginnt:

„Hai dato il mio nome ad un albero?
Non è poco, pure non mi rassegno
a restar ombra, o tronco
di un abbandono nel suburbio …“

Montale, geboren 1896 in Genua, zog 1948 nach Mailand, wo er 1981 starb. Seinen Arbeitsplatz in der Redaktion des Corriere della Sera in der Via del Solferino trennten nur wenige hundert Meter vom Park der Giardini Pubblici. Und gerne soll er, so sagt man, im Schatten unter jener nun zusammen gebrochenen Eiche gesessen haben.

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Infotafel

Zersplitterte Reste des mächtigen Stammes liegen seitdem, von einem einfachen Holzzaun umgeben, am Rand der Wiese. Mit einem Text auf einer Schrifttafel entschuldigt sich die Stadtverwaltung, dass die Anlage bedingt durch die Covid-Zeiten nicht längst besser hergerichtet worden sei. Dass also die Reste endlich abgetragen werden? Ganz im Gegenteil: man habe eine Adoption des gefallenen Baumes angenommen. Er bleibe bis Ende Dezember 2021 hier liegen, um die Auswirkungen auf die Biodiversität im Park zu untersuchen. Mit naturwissenschaftlichen Studien wie auch historischen Bestimmungen (Alter etc) sei die Università degli Studi beauftragt worden.

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Vom Nutzen eines sterbenden Baumes

Den Anstoß dazu hatte die Autorin und Journalistin Paola Pastacaldi mit ihrem Antrag auf Adoption gegeben. Mit einer Webseite (siehe hier), auf Facebook, bei Treffen mit Schülern und auf vielen Veranstaltungen wird sie nicht müde, auf die Bedeutung von Bäumen von der Lebensqualität bis zur CO2-Reduzierung hinzuweisen – und auf ihre Rolle im Kreislauf der Biodiversität: „Ein sterbender Baum ist nicht nutzlos.“ Er könne nicht nur Insekten, kleine Vögel und andere Tiere nähren, sondern das vegetale Leben, das ihn umgebe, unglaublich bereichern und schließlich weiterhin CO2 absorbieren. In dem reich illustrierten Buch („La quercia di Montale“) hat sie jetzt wie auf einem langen Leporello einen „Gesang für die Bäume in der Stadt“ – so der Untertitel – angestimmt.

Sicher ist das vor allem eine symbolische Handlung. Doch ist es auf eine merkwürdige Art beglückend, dass eine Stadt einem Baum noch Zeit zum Sterben und zum Verwesen schenken kann. Und dass es jemanden gibt, der ihn dabei begleitet.

Paola Pastacaldi: La quercia di Montale. Un canto per gli alberi in città. ill. di Anna Regge. 22 pagine panoramiche, 28 Euro. Florina Edizioni, Milano 2020