DIE MÜDE DEMOKRATIE


100 Jahre Leonardo Sciascia (1): der Staat, die Politik, die Parteien, der Fall Moro – ein bislang unveröffentlichtes Interview aus dem Jahr 1983

© Cluverius

Büchertisch mit Arbeiten von Leonardo Sciascia, der vor 100 Jahren am 8. Januar 1921 in Racalmuto (Provinz Agrigent) geboren wurde

Mailand –Der sizilianische Schriftsteller Leonardo Sciascia (1921 – 1989) engagierte sich zwei mal aktiv politisch. 1975 ließ er sich als unabhängiger Kandidat auf der Liste der Kommunistischen Partei in den Stadtrat von Palermo wählen, trat aber anderthalb Jahre später aus Protest gegen den Kurs vom „historischen Kompromiss“ und wegen Auseinandersetzungen um die innerparteiliche Demokratie der sizilianischen KP zurück. Nach der Veröffentlichung seines Buches L’affaire Moro (dt: „Die Affäre Moro“) wurde er bei den Parlamentswahlen 1979 über die Liste das Partito Radicale in die Abgeordnetenkammer gewählt.  Er war Mitglied  in dem Untersuchungsausschuss zur Moro-Entführung, ebenso  in dem Antimafia-Ausschuss. Bei den Neuwahlen Ende Juni 1983 kandidierte er nicht wieder. Kurz vor den Wahlen gab es Gelegenheit zu einem Gespräch, das hier zum ersten Mal veröffentlicht wird.

Zum Hintergrund: Der Partito Radicale, eine kleine radikaldemokratische Bewegung, führte in den 1970er Jahren die Kampagnen für Scheidungsrecht und Schwangerschaftsunterbrechung an. Bei den Wahlen 1979 konnte die Partei mit 3,4 Prozent der Stimmen 18 Abgeordnete ins Parlament schicken. Im Januar 1983 wurde der Moro-Prozess mit der Verurteilungen der Angeklagten (Rote Brigaden und Helfer) zu teilweise lebenslangen Haftstrafen abgeschlossen. Bei den Parlamentswahlen am 26./27. Juni  – kurz nach diesem Gespräch – wurden die Christdemokraten (DC) mit 32,9 Prozent wieder stärkste Partei, mussten aber erhebliche Verluste hinnehmen. Die Kommunisten verloren als zweitstärkste Kraft (29,9 Prozent) nur wenig. Gewinne konnten kleinere Parteien wie Republikaner, Sozialdemokraten, Rechtsliberale und vor allem Sozialisten (11,4 Prozent) verbuchen. Im Juli wurde in Palermo der Untersuchungsrichter Rocco Chinnici ermordet, der den ersten Antimafia-Pool der Strafverfolgungsbehörden aufgebaut hatte. Im August wurde der Sozialist Bettino Craxi als Ministerpräsident einer Koalitionsregierung („Pentapartito“) mit den Christdemokraten und weiteren drei kleinen Parteien vereidigt. Fragen an Leonardo Sciascia:

Vor einigen Jahren haben Sie in einem Fernsehinterview erklärt: „Der Staat, das bedeutet für mich die Verfassung, aber die Verfassung gilt nicht mehr. Sie hat sich aufgelöst. Wir sind in eine Vor-Montesquieu-Phase eingetreten. Die eigentlich drei unabhängigen Gewalten haben sich in einer Partitokratie vereinigt. Das heißt, die Parteien beschließen Gesetze, lassen sie ausführen und lassen sie überwachen.“ Vor vier Jahren haben Sie das Angebot angenommen, für die Radikalen ins Parlament zu gehen. Hieß das nicht, an dieser Parteienherrschaft teilzuhaben?

Leonardo Sciascia: „Ich habe gesagt, wie der Staat heute ist, lohnt es sich nicht, ihn zu verteidigen. Aber so wie er gerade wird, sind wir es, die wir uns vor ihm verteidigen müssen. Deshalb habe ich die Kandidatur angenommen. Ich habe nicht die Parteienherrschaft akzeptiert. Ich habe die Kandidatur einer Partei angenommen, die gegen die Partitokratie ist. Die Radikalen sind der parlamentarischen Idee am treuesten geblieben. Sie kämpfen sogar gegen die öffentliche Parteienfinanzierung. Ihr Verdienst ist es, keine Partei im traditionellen Sinn zu sein.“

Realist: Leonardo Sciascia, der mit 68 Jahren am 20.11.1989 in Palermo starb

Was treibt einen Intellektuellen, einen Schriftsteller dazu, Politik zu machen?

„Bücher, die ich geschrieben habe, haben mich dazu gedrängt. Mit Büchern habe ich gegen bestimmte Entwicklungen in Sizilien gekämpft und ich fand mich gleichsam natürlich an einem Punkt, diese Dinge auch aus der Nähe zu sehen. Ich ging ins Stadtparlament von Palermo.“

Ein Schriftsteller im Stadtrat und im Parlament

Welches ihrer Bücher hat Sie dazu gebracht „Il giorno della civetta“ (dt: Der Tag der Eule)?

„‚Il giorno della civetta’, ‚A ciascuno il suo’ (dt: Tote auf Bestellung) und all das, was ich schon immer über Mafia, über Missregierung, über Missstände geschrieben habe. Anschließend schrieb ich ‚L’affaire Moro’ und das hat mich dazu geführt, ins Parlament zu gehen, um Mitglied der Moro-Kommission zu werden. Es geht immer darum, aus der Nähe die Sachen zu sehen, über die ich geschrieben habe, also um eine Verifizierung. Ich bin in den Stadtrat von Palermo und ins Nationalparlament als Schriftsteller gegangen, nicht als Politiker.“

Sie wurden 1975 in den Stadtrat von Palermo als Unabhängiger auf der Liste der kommunistischen Parte gewählt. 18 Monate danach zogen Sie sich enttäuscht zurück und schrieben „Candido“. Ist das Buch eine Verarbeitung dieser Erfahrung?

„Ja, ‚Candido’ ist eine Verarbeitung der Erfahrung im Stadtrat von Palermo.“

Auch wegen Ihrer kritischen Einstellung gegenüber der kommunistischen Partei?

„Ein sizilianischer Schriftsteller, Vitaliano Brancati, sagte, wer auf Sizilien  liberal sein will, muss mindestens Kommunist sein. Das schien besonders von der Nachkriegszeit an zu gelten. Man glaubte, dass die Kommunisten zumindest im Süden und auf Sizilien bestimmte Probleme lösen könnten. Ein süditalienischer Intellektueller war also schon immer offen für den Reiz der kommunistischen Partei. Ich habe schließlich die Erfahrung gemacht, dass man mit den Kommunisten nichts erreicht. Das war eine Partei, welche die Italiener bevollmächtigt hatten, Opposition zu betreiben, dagegen zu sein. Sie betrieben auch Opposition. Aber mit dem Ziel des historischen Kompromiss, in der Hoffnung also, zusammen mit den Christdemokraten zu regieren. Diese Enttäuschung führte mich zum Rücktritt aus dem Stadtrat. Und anschließend entstand ‚Candido’, das Buch, mit dem ich mich von der kommunistischen Partei befreite. Seitdem habe ich nicht mehr ihren Charme gespürt.“

Moro und die Befreiung von einer Vaterfigur

Ihre Bücher bringen Sie also nicht nur in die Parlamente, sondern auch die Parlamente regen zu Büchern an. Kommt jetzt ein neues heraus?

„Hoffentlich.“

Eine „L’affaire Moro“ zweiter Teil?

„Nein. In dem, was ich geschrieben habe, habe ich nichts gefunden, was zu ändern wäre. Nach zwei Jahren Kommission gibt es nichts zu ändern.“

Was bleibt nach der Kommissionsarbeit im Fall Moro noch offen?

„Der Hauptpunkt ist: wie haben sie es geschafft, ihn nicht zu finden.“

Wofür steht der Fall Moro?

„L’affaire Moro ist der Versuch, die DC zu enthaupten, sie kopflos zu machen. Aber es ist auch der – unbewusste – Versuch der DC, sich von einer Vaterfigur zu befreien.“

Gab es einen Komplott?

„Es gab keinen geplanten Komplott. Es gab eine eigenartige Stimmung, in der jeder für sich seine eigene Rechnung aufmachte. Ich sage offen, alle Personen, die damals an Stellen staatlicher Verwaltung Verantwortung trugen, mussten und müssen vom öffentlichen Leben ausgeschlossen werden.“

Einer von ihnen, der ehemalige Polizeichef von Rom, Emanuele De Francesco, ist heute Präfekt von Palermo in der Nachfolge des von der Mafia ermordeten Carabinierigenerals Alberto Dalla Chiesa.

„Als ich De Francesco in der Antimafia-Kommission hörte, machte er den Eindruck eines Manns, der etwas von seiner Sache versteht. Als ich ihn aber in der Moro-Kommission hörte, schien mir das einer, der nichts begriffen hatte.“

Bis heute gibt es in der Moro-Kommission noch keine Einigung über einen gemeinsamen Abschlussbericht?

„Während der Diskussion der Mehrheit der Kommission hatte ich den Eindruck, dass alles nur dazu dient, diese Angelegenheit zu erschweren. Ich habe bereits meinen Minderheitsbericht vorgelegt, der zusammen mit dem Mehrheitsbericht veröffentlicht wird. Ich hätte ihn in jedem Fall vorgelegt, auch wenn ich dem der Mehrheit hätte zustimmen können. Hier decken sich meine Pflicht des Schriftstellers mit dem des Parlamentariers. Das sind 24 einfache, klare Schreibmaschinenseiten.“

Die Notwendigkeit einer Reform

Haben Sie nach Ihrer parlamentarischen Erfahrung den Eindruck, dass das Parlament noch ein Instrument ist, um das demokratische Leben zu gestalten? Kann ein Parlament heute noch funktionieren?

„Ja, es kann funktionieren, man muss es dazu bringen zu funktionieren. Aber wenn die Parteien alles durchdringen, funktioniert es nicht.“

Was müsste sich ändern?

„Die Aufdringlichkeit der Parteien müsste sich ändern. Jeder Abgeordneter müsste seine Wähler repräsentieren und nicht die Partei. Eine institutionelle Reform wäre nötig. Es würde genügen, das Wahlsystem zu ändern. Man könnte damit anfangen, vom Verhältniswahlrecht zum Einpersonenwahlkreis wie in England überzugehen. Das Verhältnis zwischen Wähler und Gewähltem ist genauer, dauerhafter. Man wählt eine Person, nicht eine Partei.“

In den vergangenen Jahren und besonders in diesem Wahlkampf spürt man eine gewissen Politikmüdigkeit. Die Leute wissen nicht mehr, wen sie wählen sollen, wollen vielleicht einen weißen Stimmzettel abgegeben oder denken sogar daran, gar nicht zur Wahl zu gehen. Ist das ein Überdruss am Parteiensystem oder am demokratischen System?

„Diese Müdigkeit fällt auch ein moralisches Urteil über die politische Klasse und über die Parteien. Aber sie ist ebenso Ausdruck einer Abgestumpftheit angesichts der gegenwärtigen Demokratie. Demokratie ist anstrengend, sie zwingt zum Denken, zum Auswählen. Und viele sind müde. Eine Diktatur oder ein totalitäres System sind bequemer, da geht es ruhevoll zu.“

Wohin also könnte diese Müdigkeit führen?

„Diese Müdigkeit könnte zur einer totalitären Gesellschaft führen, ohne diktatorisch zu sein. Eine Gesellschaft, in der alle auf die gleiche Art denken. Es genügt, wenn man gerade mal schlecht und recht regiert werden würde. Das genügt. Die Leute wollen nichts anderes. Ein bisschen öffentliche Ruhe, weniger Taschenraub, weniger Streiks. Und für den Rest sorgt das Fernsehen.“

Denken, lesen, studieren

Ihre Erfahrung im Parlament hat sie so pessimistisch gestimmt?

„Ich bin weder Pessimist noch Optimist, ich würde sagen, ich bin ein Realist. Wir leben nicht in der besten aller möglichen Welten. Die Welt geht zugrunde, wenn man nicht die Kraft findet, gewisse Dinge aufzugeben. Heute gibt es nur eine Art, revolutionär zu sein – nämlich die als Konservativer.“

Was bewahren?

„Das Beste. Der Reaktionär will das Schlimmste bewahren , der Konservative will das Beste bewahren.“

Was ist das Beste dieser Gesellschaft?

„Das Beste dieser Zivilisation, dieser anscheinend dahindämmernden Welt, ist eine Welt, in der man denkt, liest, studiert.“

Lohnt es sich für einen Intellektuellen überhaupt noch Politik zu machen?

„Auch als Intellektueller muss man weiterhin Politik machen, um den Verfall der Gesellschaft aufzuhalten.“

Die Kommunisten an der Regierung würden diesen Verfall nicht aufhalten?

„Die kommunistische Partei ist eine Partei geworden, die sich ein bisschen außerhalb der Realität bewegt. Man weiß nicht mehr, was sie will. An die Regierung kommen, gut, aber was will sie da machen?“

Sie stellt also keine Kraft mehr dar, um die Zukunft zu gestalten?

„In der Zeit, in der ich leben werde, nein. Denn was ist inzwischen die kommunistische Partei geworden? Das Drama ist, dass die kommunistische Partei eine große Partei war, als sie stalinistisch war. Was will sie heute sein? Eine reformistische Partei? Solch eine Partei haben wir schon, die sozialistische Partei.“

Die Verantwortung der Wissenschaft

In den Grünen, in der Jugend sehen sie keine Hoffnung für die Zukunft?

„Sicher gibt es in der Jugend Gruppen wie die Grünen, aber die Masse bewegt sich auf die totale Dummheit zu: Fernsehen, Diskothek. Die Jugend ist ohne Erinnerung. Die ganze Gesellschaft ist dabei, die Erinnerung zu verlieren. In den Ländern des Ostens wird sie von der Polizei zerstört, in den Ländern des Westens zerstört sie die Wissenschaft mit den neuen Technologien.“

Im Jahr 1975 schrieben Sie „La scomparsa di Majorana“ (dt. 1978: Der Fall Majorana), eine dokumentarische Erzählung über den sizilianischen Physiker Ettore Majorana, der kurz vor Heisenberg die Zusammensetzung des Atomkerns und seine zerstörerische Kraft entdeckte. Nachdem er sich der Bedeutung der Entdeckung bewusst wurde, entschied er sich, sie nicht zu veröffentlichen. Er verschwand, suchte vielleicht den Freitod oder versteckte sich zeitlebens in einem Kloster. Jedenfalls war Majorana jemand, der die Verantwortung des Wissenschaftlers spürte.

„Das Buch scheint mir immer noch aktuell.“

Kann man den Fall Majorana mit dem von Oppenheimer vergleichen, dem Heinar Kipphardt eine theatralische Form gegeben hat?

„Ich glaube nicht, das man beides vergleichen kann. Ich sehe in Oppenheimer kein Drama. Er wird sich der Tragik erst bewusst, als es zu spät ist. Figuren wie Oppenheimer interessieren mich nicht.“

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Erstveröffentlichung. Das Gespräch wurde am 15. Juni 1983 in Rom im Hotel Nazionale (Piazza Montecitorio) geführt. Der Spiegel, der anfänglich Interesse zeigte, verzichtete dann auf eine Publizierung.

Siehe auch auf Cluverius: 100 Jahre Leonardo Sciascia (2) „Das Teuerste von allem, was ich geschrieben habe“ Sowie Sciascia (3): „Ein auf Straßen wandernder Spiegel“