Ein Hilferuf aus Berlin: Rudolf Großkopff über freie Fußgänger und den Verkehr als Geisel des ökologischen Fortschritts
Berlin – Neulich war es wieder so weit. Wer sich mit dem Auto bewegen musste oder wollte, der war auf komplizierte Umwege angewiesen. Wenn er nicht gleich zu Hause blieb. Kurz vor dem Ende der Freiluft-Saison waren noch einmal tausende von Läufern unterwegs. Hundertausende standen am Straßenrand, Dutzende wichtiger Straßenzüge waren gesperrt. Marathon.
Die Berliner sind es gewöhnt, dass kleine und große Ereignisse sie in ihrer Bewegungsfreiheit einschränken. So gab es schon – satirische – Vorschläge, der Verkehrsfunk solle nicht mehr melden, wenn die „Straße des 17. Juni“ geschlossen sei. Es genüge, wenn die Öffentlichkeit erfahre, wenn diese auf das Brandenburger Tor zulaufende Pracht-Magistrale nicht zu sei. Das sei ja an einigen Tagen der Fall.
Eine endlose Reihe von Volksläufen und Veranstaltungen
Das war und ist das Ergebnis einer abwechslungsreichen Geschichte. Das Wirtschaftswunder nach Weltkrieg II führte in Berlin wie in der ganzen Bundesrepublik zum Siegeszug des Autos. Der Staat folgte ihm mit immer neuen Straßen – Stichwort „autogerechte Stadt“. Aber irgendwann, es muss in den 1980ern gewesen sein, setzte eine Gegenbewegung ein. „Freie Fahrt für freie Bürger“ hatte bis dahin ein Slogan der Autolobby geheißen. Nun ging es immer häufiger nach dem Motto: Freier Raum für freie Fußgänger.
Berlin war und ist auch auf diesem Feld führend. Der alljährliche Herbstmarathon ist nur der Höhepunkt einer endlosen Reihe von Volksläufen, Radrennen, Autocorsos, Biker-Demos und weiteren Veranstaltungen. Alle diese Ereignisse brauchen Vor- und Nachbereitung. Das heißt die betroffenen öffentlichen Räume sind tage- wenn nicht wochenlang gesperrt.
Wer es irgendwie schafft, geht mit seinem Event auf den 17. Juni, wie der repräsentative Straßenzug auf berlinisch heißt. Er ist ja auch der naturgegebene Schauplatz für Feste etwa zum Nationalfeiertag am 3. Oktober. Aber daneben gibt es ganze Serien von Veranstaltungen, die mit dem Wohl der Nation nicht unbedingt etwas zu tun haben.
Berlin – Hauptstadt der Demos
Dann ist da die endlose Reihe von Demonstrationen aller Art, von der Versammlung einiger dutzend Menschen bis zum Aufzug vieler tausend. Diese Beliebtheit als Hauptstadt der Demos hat natürlich mit der Rolle Berlins als Regierungssitz zu tun. Das gilt jedoch nicht für die zahllosen Straßenfeste, die gleichfalls den Straßenraum belasten.
Kurzum, aus der Tyrannei des Autos ist inzwischen eine zumindest partielle Tyrannei der Freiheit vom Auto geworden. Welche absurden Folgen das haben kann, wird jedes Jahr im Frühsommer an einem Tag des Fahrrads sichtbar. Dann wälzen sich in einer Sternfahrt riesige Mengen von Zweirädern aus den Außenvierteln gen Stadtmitte, natürlich alle auf gesperrten Fahrbahnen. Als besonderer Triumph das Velozipeds gilt dabei die Sperrung der berühmten Avus, der früheren Rennstrecke und jetzigen Stadtautobahn.
Die Stadt wird so zu einem Hindernis nicht nur für den lokalen, sondern auch für den Durchgangsverkehr. Stunden um Stunden quälen sich Berliner und Fremde auf Nebenwegen durch ein Glocke von Lärm und Gestank – das alles im Namen des ökologischen Fortschritts.
Dagegen hat noch niemand zu demonstrieren gewagt.
(*) Rudolf Großkopff, Jahrgang 1935, Publizist und Historiker, hat mehr als 40 Jahre als Journalist gearbeitet. Er ist Honorarprofessor mit dem Schwerpunkt Journalismus am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaften der Freien Universität Berlin, wo er auch lebt. Bei Ellert & Richter (Hamburg 2011) ist von ihm zuletzt „Die Macht des Vertrauens. Herbert Wehner und Jürgen Kellermeier“ erschienen. Vom Autor liegt u.a. bei Piper (München 2007) das Taschenbuch „Unsere 50er Jahre. Wie wir wurden, was wir sind“ vor.