Carl Wilhelm Macke:
Über den Dichter Biagio Marin aus Grado
Ich, um zu geben
nur Worte hab ich bereit
nur das Gedicht
das Atemkleid.
Die hab ich gebreitet
über die Insel
ein tiefblauer weiter
beständiger Himmel.
Dann wehte der Jahreswind
der Nord oder West
das Sein bleibt nicht fest
und sie schwinden. (1)
Ferrara/München – Wie entdeckt man eigentlich Dichter und ihre Gedichte? Zum Beispiel auf Umwegen über die Werke anderer Schriftsteller, wo man zum ersten Mal den Namen eines unbekannten Dichters liest. Die lange Reise von Claudio Magris entlang der Donau („Biographie eines Flusses“, München, 1988) endet mit einem Zitat, das mich neugierig gemacht hatte. „Mach, daß mein Tod, Herr“, heißt es in einem Vers von Biagio Marin, „sei wie das Fließen eines Stromes in t’el mar grando, in das große Meer“.
Nur einmal und nur an dieser allerletzten Stelle taucht in dem Donau-Buch von Magris der Name Marin auf. Und Magris schreibt auch nichts weiter über ihn, lässt seine Leser vollkommen im Dunkeln über diesen Dichter, von dem man nicht erfährt, woher er stammt und in welcher Sprache er schreibt. „In t’el mar grando“ lässt nur erahnen, dass es sich hier um eine Art Italienisch handeln muss. Hochsprache ist es jedenfalls nicht. Neugierig geworden beginnt man also eine kleine Recherche, um mehr über Marin zu erfahren.
Europäische Wanderschaft
Geboren wurde Biagio Marin 1891 auf der kleinen Adriainsel Grado. Zur Schule ging er in Gorizia, unweit von Triest gelegen, wo er auch die deutsche Sprache erlernte. Anschließend studierte er in Florenz und verkehrte dort mit berühmten Literaten seiner Zeit. In Wien, der folgenden Lebensetappe, begann Marin mit dem Schreiben von Gedichten. Nach dem Militärdienst, der ihn auch zur Teilnahme am Ersten Weltkrieg zwang, ging er nach Rom, um ein Philosophiestudium abzuschließen.
Lange hielt es den Leone Marino, den Seelöwen, aber nicht im Zentrum des urbanen Italiens. Er ging wieder zurück an die nordöstliche Adria, zuerst nach Triest, schließlich wieder ins heimatliche Grado, wo er dann bis zu seinem Lebensende 1985 blieb. Angeblich, so liest man es in der Sekundärliteratur, habe er ‚Tausende von Gedichte‘ geschrieben, die aber auch nur zu einem Teil in italienischer Sprache ediert wurden. Fast alle seine Gedichte schrieb Marin im Gradeser Dialekt.
Freundschaften: Pasolini und Magris
Vielleicht wäre sein Werk auch – außer in seiner Heimatregion – vergessen worden, wenn er nicht von Schriftstellern wie Pier Paolo Pasolini und dann vor allem von Claudio Magris einem größeren italienischem Publikum bekannt gemacht worden wäre. Pasolini und Marin schätzten sich sehr, beide teilten eine Vorliebe für den gesprochenen und geschriebenen Dialekt. Und wie tief die Freundschaft zwischen Biagio Marin und Claudio Magris erfährt man vor allem in der Lektüre ihres jahrzehntelangen Briefwechsels der unter dem Titel „Ti devo tanto di ciò che sono“ 2014 bei Garzanti erschienen ist. „Ich habe ein großes Bedürfnis, dass Du mir schreibst und mit mir sprichst. Du bist wie ein Vater für mich und Deine Worte haben mir immer geholfen“, wendet sich Magris an ihn. „Ja, so ist es,“ antwortet Marin. „ich sehe ihn Dir wirklich einen angenommenen Sohn. Und ich bin darauf auch unendlich stolz“.
Briefwechsel zwischen zwei Schriftstellern gibt es viele. Nicht außergewöhnlich sind Briefwechsel zwischen Vater und Sohn. Aber in diesem umfangreichen Briefwechsel kommt beides zusammen, eine tiefe Vater-Sohn-Freundschaft, die gleichzeitig ein Austausch zweier Generationen von Schriftstellern ist. Ein bewegendes Dokument aus einer untergegangenen Epoche – als man sich noch die Zeit nahm, mit Briefen dem Anderen persönliche Botschaften zu übermitteln.
Auf der Suche nach einem Verleger
Ob man für dieses Buch vielleicht einen deutschsprachigen Editor findet? Fast das Gesamtwerk von Claudio Magris liegt inzwischen in deutschen Übersetzungen vor. Von Biagio Marin jedoch gibt es nur einen schmaler Band mit dem Titel „Der Wind der Ewigkeit wird stärker“ in deutscher Sprache. Vermutlich ist er nur noch antiquarisch erhältlich. Es lohnt sich aber, nach ihm zu suchen.
Riccardo Caldura, Maria Fehringer und Peter Waterhouse ist die nicht leichte Übersetzung aus den Gradesisch gut gelungen – soweit man das als Nicht-Kenner dieses Dialekts beurteilen kann. Ein Beispiel: „Un mondo za perso,/ ‚na fiaba finìa,/ za sfinìo l’inverno,/ la vita va via.“ Die deutsche Übersetzung ist fast noch poetischer als das Original: „Meine Welt ist bedroht/ erzählt ist die Geschichte/ der Winter tot/ das Lebendige lichtet“. Das scheinbar so nüchterne ‚La vita va via’ zu übersetzen mit „das Lebendige lichtet“ ist einfach genial, weil hier genau das aufscheint, was für das Gesamtwerk von Biagio Marin von leitmotivischer Bedeutung ist: das Licht der Lagune bei Grado.
„Marin“, so schreibt Andreas Puff-Trojan in einer Rezension, „ist ein Dichter jenseits allen Geredes. Seine lyrische Rede hat Wert, gibt Sinn und man hofft, dass weitere Texte Marin übersetzt werden mögen“. Die Gedichte, in denen der alte Marin den „Wind der Ewigkeit“ immer stärker spürt, sind wunderbar:
Aus Verwandlung kommt Gesang
du sollst nicht bedauern
wie kurz die Tage dauern
die Verzauberung ist lang.
(1) Übersetzt von Riccardo Caldura, Maria Fehringer und Peter Waterhouse, in, Biagio Marin „Der Wind der Ewigkeit wird stärker“, Reinbeck, 1991
Weitere Infos auf der Homepage www.biagiomarin.it sowie auf Wikipedia
*Der Publizist Carl Wilhelm Macke lebt in München und in Ferrara. Er koordiniert die Arbeit des Vereins „Journalisten helfen Journalisten“ zur Unterstützung von in Not geratenen Medienvertretern und ihren Familien aus Kriegs- und Krisengebieten und aus Staaten, in denen die journalistische Freiheit bedroht ist.