DURCH EINEN ROTEN FLUR


Die 23. Internationale Triennale Mailand „Unknown Unknowns“ versucht, Nachdenken über Nichtwissen anschaulich zu machen – was nicht immer gelingt.

© Cluverius

Spielerisch: Videoclips abrufbar über ein Mellotron (Baujahr 1963) mit Stücken des Songs „L’Ignoto“ (Das Unbekannte) von Francesco Bianconi

Mailand (bis 11.12.)  – Crash oder friedliche Vereinigung? Die Andromeda-Galaxie bewegt sich auf unser Milchstraßensystem zu und wird es vermutlich in 4 Milliarden Jahren erreichen. Eine Videoinstallation verkürzt diesen Zeitraum auf wenige Sekunden und zeigt, wie sich die beiden Systeme annähern. Offen bleibt, ob es dabei zu ihrer gegenseitigen Zerstörung kommt. Nicht alle Installationen dieser 23. Internationalen Triennale Mailand, die unter dem Obertitel Unknown Unknowns eine „Einführung in die Geheimnisse des Unbekannten“ geben möchte, sind so anschaulich wie diese Arbeit des türkisch-amerikanischen New-Media-Künstlers Refik Anadol.

„Unknown Unknowns“ ist interdisziplinäre Veranstaltung über das, was wir in unterschiedlichsten Bereichen nicht wissen: vom fernsten Universum bis zur dunklen Materie und zum Ursprung unseres Bewusstseins. Angewandte Kunst (Design) und Naturwissenschaft, Gegenwartskunst und Philosophie, Architektur, Theater und Medien verbinden sich einem Versuch, Nachdenken über Nichtwissen anschaulich zu machen. Viele Beispiele bleiben jedoch abstrakt und es sind zum Glück immer wieder Arbeiten der Gegenwartskunst, wie zwei gegenüber gestellte konkav geformte farbige Spiegel von Anish Kapoor („Clear/Magenta“, 2019), die uns erhellen. Das Unentdeckte, so die These der Hauptausstellung, die Ersilia Vaudo kuratiert hat, sei eine unerschöpfliche Dimension, „und das Unbekannte ein struktureller Aspekt der Wirklichkeit, die wir bewohnen.“

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Nachdenklich: Ron Mueck „Man In a Boat“(2002)

Diese bewohnte Wirklichkeit, das Entdeckte, wird in einer zweiten Ausstellung (Mondo Reale) gleichsam konkret gegen geschnitten und hier spielt Gegenwartskunst die Hauptrolle (Kurator: Hervé Chandès). In unterschiedlichen Formaten (Gemälde, Skulptur, Film, Keramik, Installation) spiegeln sich unterschiedliche Sichtweisen auf die reale Welt mit Arbeiten u.a. von Ron Mueck oder Jessica Wynne, Alex Cerveny oder David Lynch (­ – der erscheint jeden Abend pünktlich um 7 Uhr, um uns per Video über das Wetter in New York zu informieren). Beeindruckend eine Videoarbeit von Andrei Ujica (Rumänien), der Pasolinis filmische Recherche zum „1. Evangelium – Matthäus“ in Palestina aufgreift.

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Verspiegelt: Anish Kapoor „Clear/Magenta“(2019)

Die Triennale Mailand ist ein Zwitter: Sie wurde in den 1930er-Jahre mit dem Schwerpunkt Architektur und angewandte Kunst als Gegenstück zur Kunst-Biennale Venedig gegründet. Ursprünglich im Drei-Jahres-Rhythmus (deshalb Triennale) wird die internationale Ausstellung inzwischen oft in unregelmäßigen Abständen abgehalten. Zugleich ist die Triennale eine feste (öffentlich geförderte) Einrichtung in Mailand (im Palazzo dell’Arte), in der regelmäßig Ausstellungen zur Kunst, Architektur, Design etc. veranstaltet werden, dazu kommen Veranstaltungsreihen zum Gegenwartstheater. Der Palazzo dell’Arte, der 1933 nach einem Projekt von Giovanni Muzio errichtet wurde, ist außerdem Sitz der wichtigsten festen Sammlung zum italienischen Design (Museo del Design).

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Feste Installation im Garten: „I Bagni misteriosi“ von Giorgio de Chirico, errichtet für die 15. internationale Triennale 1973

Wer sich in Mailand dieser 23. Internationalen Triennale nähert, bekommt ein ganzes Bündel von Ausstellungen, Aktionen, Veranstaltungen geboten, das hier gar nicht vollständig aufgeschnürt werden kann. In einer großen Design-Schau kann man etwa nachvollziehen, wie sich auf früheren Triennalen das italienische Design dem Neuen geöffnet hatte und selbst zum Vorläufer von Entwicklungen wurde (Kurator: Marco Sammicheli). Eine kleine raffinierte Ausstellung Il Corridoio Rosso („Der rote Flur“) führt Besucherinnen und Besucher in eine bürgerliche Wohnung vom frühen 20. Jahrhundert, in der sich das Mysteriöse in Einrichtungsgegenständen und Kunstwerken von Leonardo da Vinci bis Lucio Fontana spiegelt. Eine andere Wohnungsinstallation baut die Casa Lana von Ettore Sottsass originalgetreu wieder auf. Oder man kann auf einem Mellotron spielen und Bildsequenzen zu Francesco Bianconis Originallied L’ignoto (Das Unbekannte) hervorrufen.

Dazu kommen Länderbeiträge aus über 20 Nationen, ein Schwerpunkt ist Afrika. Ganz konkret naturverbunden geben sich etwa Polen oder die Niederlande. Auch die Ukraine ist präsent. Für Deutschland hat das Kollektiv Red Forest eine Folge von Radiosendungen (Nomadic Cosmologies and Fugitive Power) produziert, die das Engagement der Bundesrepublik Deutschland für eine kritische Auseinandersetzung mit Kunst, Wissenschaft und Umwelt widerspiegeln sollen. (Info hier) Doch sind die von Laien gelesenen englischen Texte in einem kleinen Raum akkustisch kaum zu verstehen und (bislang) amateurhaft arrangiert. Ist das Professionelle kunstfeindlich?

Unknown Unknowns. An Introduction to Mysteries. 23. Internationale Triennale Mailand,  Di-So 11-20 Uhr, Palazzo dell’Arte bis 11.12.2022. Eintritt 22 Euro, Essay-Buch (Electa) 29 Euro. Info hier

Siehe auch den Kommentar „Die Mailänder Triennale und das Wissen vom Unwissen“ in der Kunstzeitung 302 (Okt./Nov. 22)