Warum Luther die Reformation versemmelt hat. Eine vergnügliche Streitschrift von Friedrich Christian Delius
Mailand – Im protestantischen Glaubensbekenntnis ist zwar die Rede von der „Gemeinschaft der Heiligen“, doch der Heiligenkult gehört seit den 95 Thesen des Reformators von Wittenberg abgeschafft. Ausgerechnet 500 Jahre nach diesem Thesenanschlag aber sind die protestantischen Kirchen dabei, aus dem ehemaligen Augustinermönch Martin Luther selbst eine Art Heiligen zu machen. Der Pastorensohn – und Agnostiker – Friedrich Christian Delius, geboren 1943 in Rom, hat ihn dagegen literarisch vom Sockel geholt. Und ihm, so auf Augenhöhe, bei einem „Humpen Bier“ sein Leid mit der Reformation geklagt. Denn die, so Delius, die habe Luther „versemmelt“.
„Eine Streitschrift“ nennt der Autor den kleinen Text, der aus einem Radiobeitrag entstanden ist. Das ist eine wundervoll ironische Abrechnung mit dem Dogma der Erbsünde, das ein karrieresüchtiger Rhetorikprofessor und spätberufener Christ im frühen 5. Jahrhundert in die Welt gesetzt hatte. Ausgerechnet dieser Augustinus von Hippo, dessen Orden rund 1000 Jahre später unser Luther beitreten sollte, verband nach einem Übersetzungsfehler der Paulus-Schriften die Schuld der Menschheit gegenüber Gott mit der Vererbung von einer Generation auf die nächste. Jede sexuelle Erfahrung war damit negativ mit Schuld besetzt und ausschließlich von Begierde geprägt. So wie es Augustinus in seiner Mailänder Zeit von Ambrosius gelernt hatte. Die frohe Botschaft wurde zu einer drohenden.
80 arabische Zuchthengste
Theologen, die anderer Meinung waren, wurden von Augustinus als Ketzer verklagt. Und damit das auch alles seine Ordnung hatte, ließ sich der Bischof von Hippo seine Theorie vom Kaiser in Ravenna bestätigen. Reiche Geschenke wie 80 herrliche arabische Zuchthengste halfen mit, die Obrigkeit von der Wahrheit seiner Thesen zu überzeugen. Ein sündiges Volk, das erst durch Taufe und Kirche wieder befreit wurde, war zudem auch für jede wache Regierung ein gut zu kontrollierendes Volk. Eine Wachsamkeit, die gleichsam bis in die Schlafzimmer hinein wirkte.
Nun hatte Luther zwar mit seinen 95 Thesen das „theologische Reinheitsgebot gegen die Panscherei mit dem Ablass“ verfügt – ein Jahr nachdem 1516 in Ingolstadt das Reinheitsgebot gegen die Panscherei beim Bierbrauen verfügt worden war, wovon wir heute noch zehren. Doch an Augustinus wollte er nicht rütteln. Mit seiner unkritischen Haltung gegenüber dem Kirchenvater und der Frage der Erbsünde sei er, so Delius, „auf halbem Weg des Reformierens stehen geblieben.“
Ein protestantisches Vergnügen
Ein blitzgescheiter Althistoriker wie Peter Brown braucht zur Erläuterung in seinem Band „Die Keuschheit der Engel. Sexuelle Entsagung, Askese und Körperlichkeit am Anfang des Christentums“ (Hanser 1991) 599 eng beschriebene Seiten. Delius bringt die Sache im kleinen Format auf rund 60 Seiten auf den Punkt. Er beruft sich dabei auch auf Arbeiten etwa von Kurt Flasch und Elaine Pagels. Der Autor hat ein geradezu „protestantisches Vergnügen“ daran, nachdem er in der Jugend zum „Glauben-Sollen“ gequält worden war, eine „ketzerische Gegenrede“ zu halten.
Ob sie in allen theologischen Einzelheiten dem heutigen Stand der Debatten Stand hält, soll hier gar nicht diskutiert werden – „höhere Mathematik“ nennt das der Autor selbst. Aber dass Friedrich Christian Delius mit dem Reformator ein Bier-Trinken gegangen ist und ihn an alte Sünden erinnert, macht seine Schrift zu einem höchst vergnüglichen Beitrag im Lutherjahr.
Friedrich Christian Delius: Warum Luther die Reformation versemmelt hat. Eine Streitschrift. Rowohlt Taschenbuchverlag, Reinbek bei Hamburg. 64 Seiten, 8 Euro
Siehe auch: www.fcdelius.de