Briefe aus der Quarantäne (7): Es wird immer stiller, man hört Musik und nimmt Fäden zur Vergangenheit auf
Mailand (22. März) – Sonntag, der fünfzehnte Tag im Ausnahmezustand. Eine gespenstische Ruhe liegt über der Stadt. Die Schlangen vor der Esselunga in dem Viale Piave werden länger. Heute Morgen hatte ich noch Glück – nur etwa 25 Minuten Wartezeit. In den Medien hört man von abenteuerlichen Schlangebildungen in Italien bis zwei Stunden und mehr. Und die Gesichter werden ernster. Zunächst war das Anstehen vor dem Supermarkt Gelegenheit für einen Schwatz, einen Scherz mit anderen – immer Abstand wahrenden – Wartenden. Heute herrscht Stille auch in der Schlange. Immer mehr Menschen sterben. In der Lombardei sind es inzwischen über 3000, gut 1000 allein in den vergangenen drei Tagen.
Die Todesanzeigen in Italien sind traditionell klein, wenige Worte der Anteilnahme auf ein, zwei Zentimetern. Im Corriere della Sera füllen sie neuerdings zwei Seiten. Den Angehörigen der Verstorbenen wird nicht gestattet, ihre Trauer „zu leben“. Beerdigungsriten sind auf die „Zeit danach“ verschoben. Es schmerzt, dass die Toten aus den besonders betroffenen Gebieten um Bergamo und Brescia nicht einmal in ihrer Kleidung in die Särge gelegt werden, sondern eilig in Plastik gehüllt. Entsetzen haben die Bilder des Militärtransportes von Leichen aus Bergamo nach Ferrara ausgelöst. An einem Zeitungskiosk bei der Porta Venezia hängt ein Zettel mit der Aufschrift: „Ich rede nicht über den Coronavirus“.
Bis 200 Meter vor die Haustür
Seit heute ist in ganz Italien das Wirtschaftsleben auf das Notwendigste reduziert. Betriebe, die keine lebenswichtigen Güter herstellen, müssen ihre Produktion einstellen. Die Arbeitskräfte bleiben zuhause. In der Lombardei sind zudem die Ausgangsbeschränkungen noch verschärft worden. Joggen ist nur in unmittelbarer Umgebung der Wohnung erlaubt, den Hund darf man bis 200 Meter vor die Haustür bringen. Die Kinder, die in der selben Stadt wohnt, sieht man nur noch über Skype. Wie länge hält eine Gesellschaft so etwas aus?
Und wie lange der Einzelne? Die 4. Symphonie von Mendelssohn Bartholdy, die „Italienische“, beginnt so heiter – und geht doch in ein Trauermotiv über. In Neapel hatte der Komponist auf seiner Italienreise einen Leichenzug gesehen. Als die Symphonie im Radio gespielt wird, blättere ich in biographischen Notizen zu Felix Mendelssohn Bartholdy. Geboren in Hamburg 1809, gestorben in Leipzig 1847. Ein kurzes deutsches und zugleich europäisches Leben zwischen Berlin und London, Düsseldorf und Paris, Frankfurt und Reisen natürlich nach Italien auf den Spuren Goethes: Venedig, Florenz, Rom, Neapel, Genua, Mailand.
Ein unendlicher Faden
Ach, Europa. In diesen Wochen denkt jedes Land, jedes Region erst einmal an sich, als gäbe es eine Rettung in der Einigelung. Wir zeigen uns gegenseitig unsere wunden Stacheln. Am Dienstag erscheint im Folio-Verlag die deutsche Übersetzung des jüngsten Buches von Paolo Rumiz („Der unendliche Faden“), der sich auf den Weg zu den Benediktinern, „den Erbauern Europas“ gemacht hat. Der Autor schreibt im Vorwort, dass wir in zukünftigen Krisenzeiten vielleicht an die Gründungsväter, „dieses Häufchen mutiger Männer“ denken werden, das im fernen Mittelalter „imstande war, in einer Welt der Angst (…) die Werte der Zivilisation hochzuhalten.“ „Vielleicht“, so Rumiz, „werden wir uns erst später wieder auf die vergessen Werte besinnen: Gastfreundschaft, Zuhören, Eifer, die Freude an erledigter Arbeit, Gebet, Respekt vor der Natur.“
Nein Paolo, nicht später, darauf müssen wir uns jetzt besinnen.
Wird fortgesetzt