30 Jahre „mani pulite“: unter den juristischen Untersuchungen gegen Korruption und illegale Parteienfinanzierung zerbrach das traditionelle Parteiensystem Italiens
Mailand – Am 17. Februar 1992 wurde in Mailand Mario Chiesa, der Direktor einer kommunalen Sozialeinrichtung und führendes Mitglied der Sozialistischen Partei Mailands, auf frischer Tat ertappt, als er ein Bestechungsgeld einkassierte. In dem Augenblick konnte niemand ahnen, dass die Festnahme Chiesas eine Lawine lostreten würde, die das politische Italien überrollen und von Grund aus verändern sollte. Denn Chiesa war, wie sich bald herausstellte, kein Einzelfall. Korruption war längst ein Mittel zur illegalen Parteienfinanzierung, von der mehr oder weniger alle politischen Organisationen Italiens profitierten. Unter dem Schlagwort „mani pulite“ – „saubere Hände“ wurde das betrügerische Finanzierungssystem jetzt von der Justiz öffentlich gemacht und zum Skandal.
Am späten Nachmittag des 17. Februar 1992 betrat der Reinigungsunternehmer Luca Magni im Pio Albergo Trivulzio, einer großen städtischen Sozialeinrichtung von Mailand, das Büro des Direktors Mario Chiesa. Er überreichte 7 Millionen Lire, umgerechnet 3500 Euro, in Geldscheinen, die aber zuvor von der Staatsanwaltschaft signiert worden waren. Das war die erste Rate einer geforderten Gegenleistung für einen Großauftrag, den Magni erhalten hatte. Chiesa deponierte das Geld in einer Kassette. Was er nicht wusste, Magni hatte sich von einem Carabiniere in Zivil begleiten lassen, der im Vorzimmer wartete. Der ermittelnde Staatsanwalt Antonio Di Pietro erinnert sich später: „Ich bin sofort hingefahren und habe gebeten, die Kassette zu öffnen. Da war das Geld drin und ich habe gefragt, wessen Geld das sei. Mein Geld, hat Chiesa gesagt. Nein, habe ich gesagt, mein Geld, denn da ist überall meine Unterschrift drauf.“
Politik und Wirtschaft Hand in Hand
Mario Chiesa war nicht einfach nur ein korrupter städtischer Beamter, sondern führendes Mitglied der Sozialistischen Partei Mailands, die seit Jahrzehnten die politische Szene der Stadt prägte. Als enger Vertrauter des Parteichefs und des zweifachen Ministerpräsidenten Bettino Craxi galt Chiesa als Favorit für die Bürgermeisterwahl 1993. Bereits in den Jahren zuvor hatte es Vermutungen gegeben, dass Teile der Politik in Mailand und eine Gruppe von Unternehmen eine Art Kartell bilden würden, bei dem Ausschreibungen für öffentliche Aufträge manipuliert würden. An die politischen Parteien würden im Gegenzug für den Gewinn der Ausschreibung rund 10 Prozent der jeweiligen Auftragssumme – „Tangenti“ im journalistischen Jargon – weiterfließen. Gerichtlich verwertbaren Beweise für systematische Korruption blieben jedoch aus. Mario Chiesa schwieg hartnäckig in Untersuchungshaft. Er hoffte darauf, dass ihn sein Parteichef irgendwie rausboxen würde.
Doch Craxi ließ Chiesa fallen und versuchte die Angelegenheit in einem Fernsehinterview als Gaunerei eines Einzelnen darzustellen: „Auch ich bin ein Opfer dieser Angelegenheit. Ein kleiner Gauner wirft Schatten auf das Bild einer Partei, die sich in Mailand in 50 Jahren nichts zuschulden hat kommen lassen.“
Der „kleine Gauner“ Mario Chiesa packte jetzt tiefgetroffen aus. Eine Reihe von Unternehmern wurden daraufhin wegen Bestechung verhaftet. Da ging es längst nicht mehr um Sozialeinrichtungen, sondern um Milliardenaufträge für eine neue U-Bahnlinie oder der Umbau des Fußballstadions. Staatsanwalt Antonio Di Pietro bildete zusammen mit den Kollegen Gherardo Colombo, Piercamillo Davigo und Francesco Greco einen „Pool“, ein Ermittlungs-Team unter dem Namen „Mani pulite – saubere Hände“, die sich allein diesen Fällen von systematischem Amtsmissbrauch, Korruption und illegaler Parteienfinanzierung widmete. Gherardo Colombo, der Finanzexperte des Pools, sagte rückblickend: „Ich hatte in der Vergangenheit bei ähnlichen Phänomenen ermittelt. Aber ich hätte mir niemals vorstellen können, dass es sich um ein System, um ein wirkliches System von Korruption handeln würde.“
Die politische Elite am Pranger
Ähnliche kriminelle Verbindungen von Politik und Wirtschaft kamen nicht nur in Mailand, sondern auch in anderen Städten, in Neapel oder Rom ans Licht, wo nun ebenfalls Sondereinheiten der Staatsanwaltschaften gebildet wurden. Die Schatzmeister der betroffenen Parteien – besonders der Christdemokraten, der Sozialisten aber auch der Sozialdemokraten und der Liberalen – wanderten wie andere Politiker und viele Unternehmer in Haft. Die ehemaligen Kommunisten – die sich lange Zeit durch verdeckte Zahlungen aus Moskau hatten finanzieren können – waren nur am Rande betroffen. Minister traten zurück. Politiker wie der Sozialist Sergio Moroni (Schatzmeister des PSI der Region Lombardei) oder Unternehmer wie Raul Gardini (Präsident der Gruppe Ferruzzi-Montedison) nahmen sich das Leben. Eine erste Bestandsaufnahme nach einem Jahr zeigte: Bis Ende März 1993 gab es im Zusammenhang mit „Tangentopoli“ 1356 Verhaftungen und über 1000 Einleitungen von Strafverfahren. Ein Sturm der Entrüstung zog durchs Land. Und in den Augen der Öffentlichkeit galt eine Einleitung eines Strafverfahrens bereits als Verurteilung.
„Die Einzelvorgänge liefen so zusammen zu einem großen Prozess gegen eine ganze politische Elite.“ Kommentierte Jens Petersen vom Deutschen Historischen Institut in Rom in seinem Buch „Quo vadis, Italia?“ (Beck Verlag, München, 1995). „War ursprünglich Geld nötig gewesen, um einen großen Parteiapparat zu unterhalten und um Politik zu machen, so kehrten sich in den achtziger Jahren die Zwecke um: Politik wurde zum Instrument, um Geld zu machen.“
Sang- und klanglos
Der Volkszorn gab den Richtern und Staatsanwälten Rückenwind, die mit einem in Italien bis dahin ungeahnten Tempo Untersuchungen vorantrieben und Prozesse zu Ende führten. Die Bilanz nach zwei Jahren: Zwischen 1992 und 1994 gab es 3146 Strafverfahren gegen 2565 Angeklagte. Es kam zu 1408 Verurteilungen, 544 Freisprüchen sowie zu etlichen Prozessauflösungen durch Verjährung der Straftaten.Der mehrfach verurteilte Bettino Craxi entzog sich der Haft durch Flucht ins Ausland und starb später im Jahr 2000 im tunesischen Exil. Derweil spalteten sich die alten Regierungsparteien, allen voran die Christdemokraten, die in Italien bis dato nach Kriegsende ununterbrochen an der Macht beteiligt gewesen waren. Die Sozialisten lösten sich nach einer über einhundertjährigen Tradition sang- und klanglos auf. Neue Gruppen bildeten sich. Aus dem Stand eroberte die Lega Nord die Mehrheit in Mailand bei den Kommunalwahlen 1993. Und bei den vorgezogenen Parlamentswahlen 1994 triumphierte die Forza Italia, die ein Silvio Berlusconi in Windeseile aus dem Boden gestampft hatte, um die Italiener die Trümmer und die Lehren von Tangentopoli schnell wieder vergessen zu lassen.
Eine Krise ohne Ende
Parallel liefen in diesen Jahren noch die Auseinandersetzungen von Staat, Polizei und Mafiaorganisationen mit dem Höhepunkt der Ermordung der Richter („magistrati“) Giovanni Falcone und Paolo Borsellino durch die Cosa nostra im Frühjahr 1992. 30 Jahre später wird diese Epoche von vielen als eine verlorene Gelegenheit gesehen, das politische System Italiens auch angesichts der internationalen Veränderungen nach dem Fall der Mauer 1969 zu erneuern. Tatsache ist, dass die Justiz in jenen Jahren nur gegen einzelne Persönlichkeiten ermitteln konnte – nicht gegen den „palazzo“, gegen das politische System, wie es ein Pasolini schon 1975 gefordert hatte. Aber als Folge von Mani Pulite ging eine politische Kultur unter, die durch die zentrale Rolle des Parlaments und der Parteien definiert war. Parteien, die alle Glaubwürdigkeit und jeden Kontakt zur Basis verloren haben.
Bis heute, so analysierte etwa Goffredo Buccini im Corriere della Sera („La crisi infinata, 17.2.22), sei es nicht gelungen, eine neue politische Kultur zu entwickeln. Das politische System sei höchst instabil, die Justiz in sich gespalten und ein „populistischer Infantilismus“ entstanden, der „das gute und unterdrückte Volk“ unterhalb „einer Kaste böser Bonzen“ sieht, die immer an der Macht bleibt. Die gegenwärtige Regierung unter dem „Techniker“ Mario Draghi bilde gleichsam eine Auszeit und damit die Chance, „wenn auch nicht eine notwendige Verfassungsreform einzuleiten, dann doch zu einer institutionellen Kultur mit allgemein geteilten Regeln jenseits der Slogan zu kommen, die die Talkshows heimsuchen.“ Doch das Chaos bei der jüngsten Präsidentenwahl habe wohl gezeigt, „dass dieser Wunsch eine Chimäre bleibt.“
Siehe auch den Beitrag für den Deutschlandfunk „Kalenderblatt“ am 17.2.22