Schwierige Verhältnisse, konfliktreiche Beziehungen: Mensch, Natur und Landschaft. Ein Gespräch mit dem Wiener Historiker Philipp Blom
Mailand – Mensch und Natur kann man nicht getrennt denken. Davon ist der Wiener Historiker, Essayist und Schriftsteller Philipp Blom überzeugt. Im Interview spricht er von „einer absurden Selbstüberschätzung des Menschen“, der sich über Natur stellt. Er fordert, das Verhältnis „zwischen uns und dem Rest der Natur“ neu zu definieren, und fragt sich nach der Rolle, die Landschaft dabei spielen kann. Philipp Blom wurde 1970 in Hamburg geboren, studierte Philosophie, Geschichte sowie Judaistik in Wien und Oxford, und lebt heute in Wien.
Nach einer Analyse, die in der Zeitschrift „nature“ (Dez. 2020) veröffentlicht wurde, übersteigen die von Menschen hergestellten Dinge als Masse die Masse der natürlichen Dinge (die Biomasse). Ersticken wir an uns selbst? Welche Auswirkungen hat das auf das Verhältnis von Mensch und Natur? Prägen wir heute über Landschaft unser Naturverständnis? Kann Natur ein Korrektiv zu einer digital entfremdeten Welt werden? Problemstellungen am Ausgang des Gesprächs mit Philipp Blom
Das Thema Landschaft ist im wahrsten Sinne des Wortes ein weites Feld – wo würden Sie ansetzen?
Philipp Blom: „Was beim Sprechen über Landschaft für mich wichtig ist: Ich glaube, wir stehen am Ende von 3000 Jahren Kulturgeschichte. Wir stehen am Ende dieser Epoche, die angefangen wird von dem Satz ‚Macht euch die Erde untertan’. Den gibt es auch schon früher, der ist nicht nur biblisch, aber diese Idee, dass wir außerhalb und erhaben über die Natur sind, die kommt durch die Klimakatastrophe an ihr Ende. Wir sehen, dass sie empirisch falsch ist. Und wir sehen, dass unsere alten Erklärungen immer weniger Zugriff haben auf die Realität.“
Die Fallstricke der Sprache
Worum geht es im Verhältnis Mensch und Erde, Mensch und Natur?
PB: „Da fallen wir schon über die Fallstricke der Sprache. Mensch und Natur sich als zwei unterschiedliche Dinge vorzustellen, ist offensichtlich schon falsch. Was mich interessiert an diesem biblischen Satz ist, dass er ein Verhältnis konstruiert, das zu seiner Zeit eine absolut mythische Atombombe war. Was haben die Nachbarn gedacht, zur Zeit als die Bibel geschrieben wurde? Nehmen wir die Griechen. Wenn sie in See stechen wollten, mussten sie Poseidon opfern, damit er ihnen wohl gesonnen wird. Alle Gottheiten, alle Furien, Dämonen, Geister, Nymphen etc repräsentieren Naturkräfte, haben ihre eigene Intentionen und interagieren mit Menschen. Manchmal indem sie sie vergewaltigen oder entführen, manchmal indem sie ihnen gute Dinge tun. Aber das heißt, es ist ein Begreifen einer dauernde Wechselwirkung mit den Kräften der Natur. Und ein Begreifen der Tatsache, dass diese Natur Macht hat und über unser Leben Macht haben kann und dass wir uns arrangieren müssen mit diesen Kräften der Natur, in der alles animiert ist. Und dann kommt die Bibel und macht sie zum toten Territorium auf eine sehr patriarchale Weise. Also die Natur ist toter Staub, sie kann besessen, gekauft, verkauft, gepflügt, penetriert werden, die hat nichts zu sagen, die hat kein Interesse, keine Energie, keine Macht. Dieses Verhältnis haben wir fortgesetzt.“
Fortgesetzt in einer Art von Hybris?
PB: „Alles, was wir hervorbringen, ist Natur, ist Evolution. Das Problem liegt teilweise im Denken aber damit auch teilweise in der Grammatik. So wie wir darüber sprechen können, dass es einen Geist gibt, als ob er losgelöst vom Körper existieren könnte. So können wir auch darüber sprechen, dass es Mensch und Natur gibt, als wäre das ein Gegensatz. Und können uns damit herausheben aus dieser Natur und außerhalb von ihr auf sie herabsehen. Das ist sehr verführerisch, das ist natürlich auch sehr schmeichelhaft für uns als Spezies, aber es ist intellektuell sehr zerstörerisch. Wissenschaftstheoretisch sehr zerstörerisch, weil wir einfach einen falschen Gegensatz konstruieren und uns damit in eine Situation der Erhabenheit bringen, die einfach nicht besteht. Wir sind Teil eines gigantisch komplexen Systems, ein ziemlich unwichtiger Teil davon, längst nicht so wichtig wie Funghi oder Algen oder Plankton. Aber wir können uns konstruieren, als wären wir nicht nur ein ebenbürtiger Partner, sondern sogar ein der Beherrscher des Ganzen.“
Landschaft zwischen Wildheit und Herrschaft
Und das komplexe System fliegt uns gerade um die Ohren…
PB: „Das fliegt uns gerade um die Ohren, aber es so tief eingebacken in unsere Denkstrukturen und in unsere Sprache, in unsere ganze kulturelle Praxis, dass es uns wahnsinnig schwer fällt, uns davon zu befreien. Aber das ist genau die Herausforderung, vor der wir im Moment stehen. Deshalb finde ich unser Thema auch so reizvoll, weil Landschaft genau dazwischen steht. Landschaft auch manchmal mit der Wildheit spielt, mit dem Ungezähmten spielt. Also englische Landschaften tun das gerne, französische Landschaften oder französische Gärten versuchen genau das Gegenteil zu tun. Auch das Konzept von Landschaft, wo ist die Wildheit, wo fängt sie an, wo ist die Herrschaft realisiert. Das sind Fragen, die wahnsinnig aktuell sind im Moment.“
Natur und Landschaft, wie hängt das zusammen?
PB: „Landschaft ist immer ein Konstrukt. Bei der Arbeit an meinem Italienbuch (*) wurde mir klar, dass vor dem 18. Jahrhundert, letztendlich vor Rousseau, die Alpen nicht schön waren, sie waren auch nicht erhaben, sie waren auch nicht ursprünglich, sie waren eine Todeszone, sie waren so wie die Sahara. Da versuchte man, schnell durchzukommen, und nicht alle kamen durch. Es gab noch keine Straßen für Kutschen. Diese Idee, dass Landschaft sublim ist, das Landschaft ursprünglich ist, dass Landschaft uns mit etwas verbindet, das ist natürlich eine Idee auch der Entfremdung. Das ist eine Idee, die aus dem Gegensatz entsteht, dass wir nicht mehr in der Landschaft und durch die Landschaft leben oder im Land und durch das Land leben, sondern dass Landschaft ein Objekt der ästhetischen Bewunderung geworden ist und natürlich auch ein Objekt der ästhetischen Konstruktion. Zwar gibt es Aquarellskizzen von Altdorfer und Dürer, die tatsächlich auf ihren Reisen gezeichnet haben, was sie gesehen haben. Aber die allermeisten Landschaften entstanden selbstverständlich im Studio und waren selbstverständlich allegorisch und haben nicht ein reales Stück Land dargestellt, sondern eine Weltlandschaft mit einem Fluss, mit Bergen und einer Stadt und allen Attributen, die notwendig waren, um die Vollständigkeit der Welt darzustellen – niemals eine realistische Landschaft. Und daraus entsteht über lange Zeit auch die Idee, dass man tatsächlich auch Natur darstellt. Erst immer mit Menschen darin, also Natur ohne Menschen hatte offensichtlich keinen Sinn ergeben, das war nicht betrachtenswert. Das ändert sich erst mit der Romantik, wobei sogar ein Caspar David Friedrich sehr oft Menschen malt – zumindest vom Rücken her. Aber die Idee, dass die Landschaft sich emanzipiert als Objekt von ästhetischer Bewunderung, das kommt sehr spät. Und kommt dann aus einem Gefühl einerseits der Überlegenheit und andererseits des Verlustes.“
Eine radikale Bescheidenheit
Es geht also um eine pflegerischen Umgang mit der Natur?
PB: „Nein, es geht um eine viel radikalere Bescheidenheit. Wir sind ein nicht besonders wichtiges Tier in diesem gigantischen System. Das hängt nicht von uns ab, wir aber von ihm. Wir sind nicht die guten Hirten, die die Natur pflegen und Dinge tun können und sie lenken können. Wir hängen von ihr ab und das sind Systeme, die so komplex sind, das wir gerade erst anfangen, ein oder zwei Prozent dieser Komplexität zu begreifen und zu ergründen. Weshalb auch Geoengineering so eine absurde Idee ist. Wie sollen wir in Systeme eingreifen, deren Komplexität wir überhaupt nicht durchschauen, weder durch den Raum, noch durch die Zeit. Auf eine sehr oberflächliche Weise ist die Idee ‚Macht euch die Erde untertan’ zum ewig wachsenden globalen Markt geworden, zu einem Dogma des ewigen Wachstums, der ewigen Herrschaft und Domination. Und die ist an ihre Grenzen gestoßen. Wir leben in einer Welt, in der pro Minute eine Million Tonnen Eis aus Grönland verschwinden, abschmelzen, pro Minute 30 Felder Regenwald abgeholzt werden und es offensichtlich, dass das kein System ist, das auch nur ein Jahrzehnt weiter bestehen kann. Wir zerstören die Natur nicht, die wird in 300 000 Jahren wieder wunderbar aussehen, halt ohne uns. Aber wir verändern Systeme auf eine Weise, dass wir selber nicht mehr drin leben können. Unsere größte Herausforderung — und es ist tatsächlich eine evolutionäre Herausforderung, eine existenzielle Herausforderung — ist unseren Platz in diesem komplexen Ganzen ganz neu zu verstehen.“
Ist heute die wachsende Sehnsucht nach Natur auch ein Korrektiv zur digitalen Welt?
PB: „Das ist evident, das kann jeder, der sich mit der Natur auseinander setzt, der ein bisschen aus dem sehr künstlichen Zusammenhänger heraus geht, an sich selbst fühlen. Dass einfach eine Umgebung, die unserer evolutionären Erfahrung entspricht und beruhigt, uns mehr in Harmonie mit unserer Umwelt und mit uns selbst fühlen lässt als eine Umgebung, die das nicht tut. Auch da haben wir Opfer einer sich rapide beschleunigenden Geschichte. Ich glaube, wir unterschätzen die digitalen Welten sehr stark in ihrer Wirkung auf uns psychologisch. Die digitale Welt ist regelhaft, vielleicht hat der Algorithmus einen Zufallsgenerator eingebaut, um ab und zu mal etwas Interessantes zu machen, aber das heißt, das Digitale macht uns im Prinzip eher lebensuntüchtig für die Welt da draußen. Denn die Welt draußen ist weder gerecht noch sinnvoll, sie funktioniert nach Zufällen, mit denen wir irgendwie dann improvisierend umgehen lernen müssen. Das ist, glaube ich, eine Erfahrung, die Menschen, die vom Land und im Land leben, als tägliche Erfahrung haben. Weil immer etwas passiert, ein Hagelsturm kommt und vernichtet die Ernte oder eine besonders reiche Ernte kommt, es kommen auf einmal Tiere, es passieren dauernd Dinge, die sich nicht kalkulieren lassen. Von daher der Wunsch zurück zu kehren zu natürlichen Zusammenhängen, und das fängt an mit einer Topfpflanze, mit dem Erlebnis von Wachsen und von der Selbstorganisation von Natur, und davon, dass eine Verbundenheit besteht offensichtlich zwischen uns und der Natur.“
Die Bäume und wir
Um die Entfremdung von ihr wenigstens zu mildern?
PB: „Wir teilen nicht nur 20 Prozent unsere DNA mit Bäumen, sondern diese 20 Prozent definieren auch gemeinsame Lebensziele, die definieren auch eine Lebensgemeinschaft. Das ist, glaube ich, kein Mystizismus. Diese Entfremdung, die sie ansprechen, die erfordert sehr hohe Kompensationsleistungen, die können wir uns zum Teil leisten, weil wir reich geworden sind, dadurch dass wir diese Entfremdung erst geschaffen haben. Aber sie schafft auch eine dauernde Malaise und diese Malaise können wir zum Teil ausgleichen, indem wir die Natur sublimieren zu Landschaft und uns so zu eigen machen, sie nach unseren eigenen Kriterien schaffen. Eben als Weltlandschaft, die nicht ein Abbild eines irgendwie existierenden Teil des Landes ist, sondern unsere Projektion, was ein ideales Land sein sollte. Aber ich glaube, die Landschaft als Konstrukt, das wir gemacht haben, ist ein Produkt dieser Entfremdung, ein sehr schönes Produkt dieser Entfremdung. Und wir werden diese Entfremdung auch nie ganz los werden. Es geht nicht zurück auf die Bäume, es gibt überhaupt kein Zurück in der Geschichte. Das Modell, mit dem wir über Jahrhunderte sehr erfolgreich operiert haben, die Welt dominiert und ausgeraubt haben, das zerbricht jetzt gerade um uns herum. Und wir haben noch nicht verstanden, wie wir dem begegnen sollen.“
Intelligent mit der Natur zu leben, ist das möglich?
PB: „Mein Punkt ist, ich glaube, das was wir als Landschaft verstehen, entspringt dieser Außenposition, die wir als Menschen uns selbst gegeben haben und selbst zugesprochen haben. Und die auch, das muss man dazu sagen, beispiellos erfolgreich war, ohne die wir keine Wissenschaft hätten, ohne die wir keine Demokratien hätten, ohne die wir keine Menschenrechte hätten. Das sind ja zum Teil auch Luxusphänomene, es ist kein Zufall, dass die Demokratien im vollen Sinne alles Kinder der Nachkriegszeit sind und Kinder des Erdölbooms. Die Frage ist, wie können wir ein Verständnis darüber neu definieren, was das Verhältnis zwischen uns und dem Rest der Natur ist. Das ist, glaube ich, eine große Herausforderung. Wir erkennen erst gerade die gröbsten Konturen davon, wie es sein könnte, wenn wir diese absurde Selbstüberschätzung aufgeben. Und das rührt an die absoluten Grundpfeiler unseres Selbstverständnisses als Menschen. Dann wird es auch keine Landschaft mehr geben, sondern nur noch Land.“
Interview geführt in Wien am 21.6.21. Erstveröffentlichung in: »Leading with LANDscape. Ein Magazin mit Berichten und Erzählungen, mit Meinungen, Interviews und Analysen zu Fragestellungen über Natur, Städte und zukünftige Lebensweisen Vol. 1« Herausgeber: Andreas Kipar. (Zum Magazin hier)
(*) Philipp Blom: „Eine italienische Reise. Auf den Spuren des Auswanderers, der vor 300 Jahren meine Geige baute“. München (Hanser) 2018. Vom Autor zuletzt erschienen: „Was auf dem Spiel steht“. München (Hanser) 2017. „Das große Welttheater. Von der Macht der Vorstellungskraft in Zeiten des Umbruchs“. Wien (Zsolnay) 2020. „Diebe des Lichts“ (Roman). München (Blessing) 2021. Siehe auch: philipp-blom.eu