EINE LAIZISTISCHE KATHEDRALE


In Mailand wurde der Neubau für die Fondazione Feltrinelli eröffnet, den Herzog & de Meuron projektiert haben. Darin finden das riesige Archiv und die Bibliothek sowie Veranstaltungsräume und eine Buchhandlung (mit Café) Platz

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Irgendwie gotisch – der Neubau für die Feltrinelli-Stiftung (im vorderen Drittel) und Microsoft Italia (hinten)

Mailand – Bei Feltrinelli kann man feiern. Der Mailänder Verlag hat mit Roberto Savianos neuem Roman über die Rolle von Jugendlichen im organisierte Verbrechen Neapels („La paranza bei bambini“) einen Verkaufsschlager im Programm, der seit Wochen alle Bestsellerlisten anführt. Und die Fondazione Giangiacomo Feltrinelli konnte ihren neuen Sitz beziehen, den Herzog & de Meuron unweit der Porta Garibaldi errichtet haben.

Das Gebäude zieht sich 188 Meter lang hin. Es mutet 32 Meter hoch mit einem spitz zulaufenden Dach und angewinkelter Fassade irgendwie gotisch an – und wird doch nach allen Seiten verglast ganz zeitgemäß von Licht durchflutet. Eine „laizistische Kathedrale“ nennt das Jacques Herzog. Das erste Drittel dieses Glashauses gehört zur Fondazione, im größeren hinteren Teil will im Februar die Firma Microsoft Italia ihren Hauptsitz eröffnen. Auf dem Gelände befand sich in den 1920er Jahren ein Holzlager der Feltrinelli-Industrieunternehmen, nach Kriegszerstörungen waren hier ein Gartenbauhandel sowie eine Waschanlage untergebracht. Kosten der Gesamtoperation rund 50 Millionen Euro.

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Angewinkelt – die Fassade der Fondazione Feltrinelli

Das Bild von Feltrinelli wird vor allem vom Verlag und der Buchhandelskette mit weit über 100 Verkaufsstellen in Italien geprägt. Giangiacomo Feltrinelli, Erbe einer Mailänder Familie von Grossunternehmern (Holzhandel, Banken), hatte den Verlag 1955 gegründet und bald darauf die erste eigene Buchhandlung eröffnet. Der extrem links orientierte Verleger kam 1972 unter nie ganz geklärten Umständen bei einem Bombenanschlag ums Leben.

Buchhändler, Barkeeper und TV-Produzent

Heute führt sein Sohn Carlo das Familienunternehmen, das er zu einer Art Kulturholding entwickelt hat. Zu der gehört neben einem Vertriebssystem und weiteren kleinen Verlagen wie Apogeo auch der private FernsehsenderLa Effe“. Dazu kommen nach der Übernahme der Ricordi-Läden der Handel mit CD und Video, eine Beteiligung an der „Scuola Holden“ für kreatives Schreiben, die Alessandro Baricco in Turin gegründet hatte, sowie ein eigener Gastronomiezweig. Ein Verleger, sagte der 54jährige Carlo Feltrinelli kürzlich in einem Interview mit la Republicca, müsse heute viele Berufe gleichzeitig ausüben: Buchhändler, Barkeeper, TV-Produzent – „nur so kann man die Zukunft von Büchern und Arbeitsplätzen sichern.“

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Buchhandlung mit Neon-Installation „Kultur gleich Kapital“

Bei der Außendarstellung des kleinen Feltrinelli-Imperiums (etwa 1700 Mitarbeiter, Jahresumsatz rund 450 Millionen Euro) spielte die Fondazione Feltrinelli lange Zeit eine nur marginale Rolle. Dabei hatte alles mit ihr angefangen. Noch vor dem Verlag gründete Giangiacomo Feltrinelli 1949 eine Bibliothek zur Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegungen, die später in eine Stiftung umgewandelt wurde. Sie ist heute eines der bedeutendsten privaten Wissenschaftsinstitute in Europa, die sich mit der Erforschung der Arbeiterbewegung und der Sozialgeschichte beschäftigen. 1,5 Millionen Archivblätter, 250 Tausend Bände (darunter wertvolle Erstausgaben von der Aufklärung an), 17 Tausend Zeitschriften und über 14 Tausend politische Plakate gehören zu ihrem Bestand, der bis lang an mehreren Orten in Mailand aufbewahrt wurde. Jetzt findet er Platz in den Kellergeschossen des Neubaues.

Die Expo2015 und die Charta von Mailand

Carlo Feltrinelli, der inzwischen auch die Leitung der Stiftung übernommen hat, sieht die Zukunft des Institutes in einer „Spannung aus Innovation und Tradition“. Mit Forschungsfeldern wie: Arbeit in der Ära der digitalen Revolution, Globalisierung und Nachhaltigkeit, neue Dynamiken der politischen Partizipation, europäisches Staatsbürgertum und einer „History Box“ zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Bereits im Vorjahr hatte die Fondazione Feltrinelli federführend das wissenschaftliche Programm der Weltausstellung Expo2015 ausgearbeitet, zu dem in Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen die „Charta von Mailand“ gehörte, mit der sich die Unterzeichner (Staaten aber auch Einzelpersonen) für nachhaltige Produktion in der Landwirtschaft und für den Kampf gegen die Verschwendung von Lebensmitteln einsetzen wollen.

Mit einer Buchhandlung und dem Café Babitonga

Zugleich will sich die Fondazione (mit einem Jahresbudget je nach Auftragslage zwischen 1,3 und 2,5 Millionen Euro) der Stadt Mailand öffnen, eine „Casa di Cultura“ sein und Ergebnisse der Forschungen einem größeren Publikum darbringen. Ein Lesesaal, 9 Meter hoch unter dem spitzen Glasdach, in dem eine originale weinrote Fahne der Pariser Kommune von 1871 ausgestellt wird, ist montags bis freitags für alle geöffnet. Lesungen, Aufführungen, Ausstellungen sollen in einem Veranstaltungsraum für bis zu 200 Besucher stattfinden. In der Woche zur Eröffnung setzten Schauspieler des Teatro Filodrammatici Texte von Ernesto Che Guevara oder Malcolm X, Salvador Allende oder Michail Bakunin in Szenen um. Und im Erdgeschoss hat eine Feltrinelli-Buchhandlung zusammen mit einem Bistro („Café Babitonga“) eröffnet. Hinter der Kasse ist eine Neoninstallation des chilenischen Künstlers Alfredo Jaar zu sehen: „Cultura = Capitale.“ Wem die Botschaft nicht schmeckt oder zu zweideutig ist, bestelle sich einen Espresso an der Bar – der ist eindeutig exzellent.

Info: http://www.fondazionefeltrinelli.it

In kürzerer Form ist ein ähnlicher Text in der Neuen Zürcher Zeitung vom 23.12.2016 erschienen