Der Künstler und Bühnenbildner Daniele Lievi und seine Visionen (nicht nur) der Theaterwelt in einer bemerkenswerten Ausstellung im MuSa, dem Museum von Salò
Mailand/Salò (MuSa bis 30.11.) – Bildende Künstler von Pablo Picasso bis Anselm Kiefer haben gelegentlich Wege in die Theaterwelt gesucht und sie etwa mit Bühnenbildern bereichert. Aber keiner hat sein künstlerisches Schaffen so radikal mit der Bühne verbunden wie der früh verstorbene Daniele Lievi (1954-1990) – in enger Zusammenarbeit mit seinem zwei Jahre älteren Bruder, dem Regisseu, Autor und Lyriker Cesare Lievi. Auf dessen Initiative hin wird jetzt in Salò am westlichen Ufer des Gardasees unter dem Titel „Carte Segrete – Teatro Visioni“ (Geheime Blätter – Theater Visionen) eine umfassende Ausstellung mit Arbeiten von Daniele Lievi gezeigt, nachdem es im Vorjahr gleichsam als Wegbereitung bereits eine kleinere Ausstellung in Brescia gegeben hatte.
Im Mittelpunkt der mehr als 150 Exponate stehen die „Carte segrete“, Zeichnungen und Skizzen, die eine Art künstlerisches Tagebuch bilden. Sie bilden gleichsam den Kern eines Werks, das, wie es in einem Text zur Ausstellung heißt, „sich in einer Reihe von Querverweisen und Korrespondenzen entfaltet, die eine fragmentierte und zugleich kompakte Totalität erzeugen, in der Bühnenbildner und Künstler nicht nur ineinandergreifen, sondern eine neue Figur erzeugen.“
Den Monte Denervo im Rücken liegt Gargnano am oberen Gardasee vis-à-vis vom Monte Baldo, der das gegenüberliegende, das „venezianische“ Ufer des Sees prägt. In diesem von Blicken und Überblicken geprägtem geographischen Raum kamen Cesare und Daniele Lievi zur Welt. Nach dem Studium der Philosophie (Cesare in Padua) und der Architektur und Kunst (Daniele in Venedig) gründeten die Brüder Lievi 1979 in ihrem Heimatort das „Teatro dell’Acqua“.
Eine poetische Theaterwelt
In dem bis 1985 aktiven „Wassertheater“ entwarfen sie im Saal einer ehemaligen Kaserne mit Laienschauspielern eine poetische Theaterwelt, die bald auch zufällige Gäste wie Hans Magnus Enzensberger verzauberte. Cesare als Regisseur, Autor oder Übersetzer (u.a. aus dem Deutschen), Daniele verantwortlich für den künstlerischen, traumbildnerischen Raum, den sich Publikum und Schauspieler teilten und der sich phantasievoll kontinuierlich aus den Proben entwickelte. Am Ende dokumentierte er den Prozess mit Zeichnungen, die einerseits die Realisierung widerspiegelten, andererseits bereits mit Möglichkeiten zur spielerischen Weiterentwicklung experimentierten.
Es war eine Sensation, als ihre Inszenierung von Georg Trakls „Barbablù“ 1984 zur Theaterbiennale nach Venedig eingeladen wurde (später u.a. auch auf Deutsch am Wiener Burgtheater). Inzwischen war die deutschsprachige Theaterwelt durch Mund-zu-Mund-Propaganda auf die Brüder Lievi aufmerksam geworden. 1985 führten sie in Frankfurt „Das Bergwerk von Falun“ nach der Erzählung von Hugo von Hofmannsthal auf. Es folgten Inszenierungen an großen Bühnen in Italien aber vor allem im deutschsprachigen Raum (zwischen Hamburg und Heidelberg, Basel, Wien oder Berlin), wo die Lievi als „die Zauberer von Gardasee“ (hier in einem Beitrag des „Spiegels“) bewundert wurden.
Das langsame Hinausgleiten des Publikums
Der professionelle Rahmen forderte vom Bühnenbildner/Künstler jetzt kein work in progress mehr, sondern handfeste konkrete Vorgaben für den Bau der Szenografie. Daniele reagierte, indem er aus farblichen Experimenten Ideen für Räume entwickelte, die dann zur planvollen und technischen Skizzen führten. Zugleich setzte er die Angewohnheiten fort, das Ergebnis nicht nur zu dokumentieren, sondern künstlerisch zu erweitern, während „das Licht im Parkett und das langsame Hinausgleiten des Publikums“ den Bühnenabend „für immer hinweg zog“ – wie Cesare Lievi den ephemeren Charakter des Theaters einmal beschrieb. Diese nicht-ephemeren Arbeiten nannte Daniele Lievi: „Carte segrete“.
In diesen Arbeiten geht es um Fragen nach dem Sinn von Darstellung, treffen sich Gegensätze wie objektiv/subjektiv, wahr/mystifiziert, natürlich/artifiziell und münden in einer kritische Haltung, die dazu führt, Ergebnisse als Ausgangspunkt für neue künstlerische Gedanken zu nehmen. Ganz spielerisch geht der Künstler mit Stilelementen vor: hier surrealistisch, dort sachlich, dann wieder naiv oder ganz in Farben versunken.
Die „Carte segrete“ werden in Salò mit frühen Arbeiten sowie mit Bühnenskizzen, Gemälden und Fotografien ergänzt. Auch mit Videos u. a. der Inszenierung von Wagners „Parsifal“ an der Mailänder Scala (musikalische Leitung Riccardo Muti/ Regie Cesare Lievi), für die Daniele aus seinen „geheimen Blättern“ Wandprojektionen plante. Den Applaus zur Saisoneröffnung der Oper 1991/92 konnte er nicht mehr erleben, er starb nach kurzer schwerer Krankheit bereits bei den Vorbereitungen, die sein Assistent dann zu Ende führte.
Die Ausstellung, die Cesare Lievi projektiert hat, erweist sich nicht nur als eine Verbeugung vor dem Bruder, als liebevolle Hommage an ihn. Als Regisseur der jeweiligen Inszenierungen ist der Ältere durch die reiche Fotoauswahl immer präsent, und die „geheimen Blätter“ und Visionen des Jüngeren bilden so auch einen Spiegel der gemeinsamen Arbeit. Wie Daniele als Co-Regisseur eines dramaturgischen Prozesses verstanden werden kann, so Cesare als Mit-Autor, zumindest als kongenialer Begleiter eines künstlerischen.
Daniele Lievi. Carte Segrete – Teatro Visioni. Nach einer Idee von Cesare Lievi kuratiert von Bianca Simoni. MuSa (Museo di Salò), Salò (BR) bis 30.11. Do-So 10-18 Uhr (ab 1.10. erst ab Fr). Eintritt 9 Euro
Hier zu einem Video
Außerdem die Veröffentlichung anlässlich einer kleineren Vorläufer-Ausstellung in Brescia 2021: Cesare Lievi/Daniele Lievi: Carte segrete. Tra disegno e scrittura. Scholé (Ed. Morcelliana), Brescia 2021. 123 p., 13 Euro
Der Beitrag ist in gekürzter Form auch in der Kunstzeitung Nr. 302 (Okt./Nov. 22) erschienen