Sandor Weltmanns labyrinthische Erzählung „Città di mare con nebbia“
Mailand – Unheimlich geht es zu in der Erzählung Città di mare con nebbia, die ein gewisser Sandor Weltmann auf Deutsch geschrieben haben soll und die Hans Tuzzi jetzt übersetzt und beim Mailänder Verlag Skira herausgegeben hat. „Stadt am Meer im Nebel“ spielt am Ende des Jahres 1888 in einer deutschen Hafenstadt an der Ostsee. Ein Ungeheuer versetzt die Autoritäten in Angst und Schrecken, angesehene Bürger werden ermordet und ihren Leichen werden die Herzen beraubt. Ein geheimnisvoller Gast aus Portugal taucht auf und verschwindet wieder wie das Böse nach einer gespenstischen Jagd durch die Kanalisation.
Das wahre Ausmaß der Ereignisse bleiben der damaligen Öffentlichkeit vorbehalten. Allein der handschriftliche Bericht eines Vorfahren von Weltmann, der als Verschlusssache geheim gehalten wird, hält die Vorgänge fest. Eine mysteriöse Abschrift mit Schreibmaschine, von Weltmann eingeleitet, die aus der Zeit der Weimarer Republik stammt, ist jetzt wundersam im Nachlass einer in Mailand verstorbenen Deutschen aufgetaucht. Hans Tuzzi, der sie gefunden haben will, hat den Text veröffentlicht. Das ist ein Bericht, der von Anspielungen nur so strotz, angefangen vom Namen des Autors Sandor Weltmann, ein alter Ego von Doktor Mabuse im Film von Fritz Lang. 1888 war das Jahr, in dem Jack the Ripper in London sein Unwesen trieb und der Regisseur Friedrich Wilhelm Murnau („Nosferatu – eine Symphonie des Grauens“) geboren wurde. Es gibt vielfältige Verweise auf den expressionistischen deutschen Film, etwa auf Robert Wiene und Conrad Veidt – in Tuzzis Erzählung „Doktor Wiene“ und „Kapitän Weidt“ – und „Das Cabinet des Doktor Caligari“.
Deutschland, bleiche Mutter
Tuzzis Erzählung? Hans Tuzzi, eine Person aus Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“, ist selbst ein Pseudonym und unter den vielen Mehr- und Andeutungen des Textes etwas, was sich leicht aufklären lässt. Dahinter verbirgt sich der 64jährige Büchernarr und Autor Adriano Bon, Verfasser gelehrter Aufsätze zur Bibliophilie und mehrerer Romane (darunter auch einiger Krimis) aus dem Mailänder Milieu. Nicht von ungefähr trägt wohl der große Unbekannte in der Erzählung die Initialen „A. B.“ Und man muss nicht lange raten, dass alles seine Erfindung ist. In einem Nachwort legt Tuzzi zu allem Überfluss noch weitere Spuren „in dieses wahnhafte Labyrinth“. Etwa mit dem Hinweis auf einen „berühmten Vers von Brecht, der kürzlich in einem Film wieder aufgenommen wurde: Deutschland, bleiche Mutter.“
„O Deutschland, bleiche Mutter!/ Wie haben deine Söhne dich zugerichtet / Daß du unter den Völkern sitzest / Ein Gespött oder eine Furcht!“ Gespött oder Furcht – ist Sandor Weltmanns doppelbödige Erzählung „Stadt am Meer im Nebel“ vom Ende des 19. Jahrhunderts mit ihrer, so Tuzzi, „gotischen Moral“ also eine kleine Parabel auf das Deutschland aller Zeiten?
Sandor Weltmann: Città di mare con nebbia. A cura di Hans Tuzzi. Skira, Mailand. 137 Seiten, 15 Euro