IM LAND DER TRÄUME


Briefe aus der Quarantäne (9): Kulinarisch und literarisch unterwegs in Italien. Und Corona zum Trotz abends in die Scala – oder lieber ins Elfo?

© Cluverius

Teatro Elfo Puccini in Mailand – Aufführungen gibt es nur online

Mailand (2. April) – Donnerstag, der sechsundzwanzigste Tag im Ausnahmezustand. In der Via Boscovich blühen die ersten Fliedersträuche. Zum Frühstück gab es Erdbeeren aus der Basilicata, die auch wie frische Erdbeeren schmecken, süß, aromatisch mit leichter Säure am Ende. Zu Mittag steht Risotto mit jungem grünen Spargel auf dem Kochplan. Spargel aus Salerno. Das ist zwar keine „Null-Kilometer-Ware“, aber immerhin alles Italien. Der Reis, natürlich Carnaroli, kommt derweil von hier aus der Lomellina. Dazu ein Glas Rotwein, leicht und spritzig aus dem Piemont, Barbera di Monferrato etwa.

„Komm! ins Offene, Freund!“ Nein, noch ist es zu früh für Hölderlins Gang aufs Land. Der Ausnahmezustand ist gerade bis Ostermontag einschließlich verlängert worden. Wir fühlen uns mit dem Blick vom Balkon auf die menschenleere Straße noch in der ersten Strophe gefangen. „… es schlummern die Gäng’ und die Gassen und fast will / Mir es scheinen, es sei, als in der bleiernen Zeit.“ In der Lombardei sind bislang 7.583 Menschen am Coronavirus gestorben, davon 381 gestern. So in seine Wohnung verbannt liest man viel, vielleicht zuviel durcheinander.

Verrückt nach Italien

Immerhin kann man neben dem Kochen auch mit Büchern durch Italien reisen, gerade wenn man in Mailand oder sonst wo zwischen vier Wänden gesperrt lebt. „Ich fühle, wie mich das Behagen an der Faulheit umschließt!“ Ein Satz, den man von einem Workaholic wie Sigmund Freud nicht unbedingt erwarten kann. Er schreibt ihn in einem Brief an seine Familie aus Rom. Rom, das Reiseziel seiner Jugendträume, das er in Begleitung seines Bruders Alexander im September 1901 zum ersten Mal besucht. „In Rom eingetroffen, um 3 h nach Bad umgekleidet u Römer geworden. Unbegreiflich, dass wir nicht Jahre früher gekommen sind.“ Freud ist 45 Jahre alt. Er sollte danach öfter, insgesamt sieben Mal in die Ewige Stadt reisen.

Aber nicht nur Rom. Freud reiste zwischen 1895 und 1923 mehrfach kreuz und quer durch Italien, er war geradezu „verrückt nach Italien.“ Mit dieser Bemerkung beginnt das Buch von Jörg-Dieter Kogel „Im Land der Träume. Mit Sigmund Freud in Italien“ (Aufbau Verlag). Der Autor kann sich auf den reichhaltigen Briefwechsel des Wiener Nervenarztes mit Familie und Freunden stützen, denn Freud schreibt geradezu manisch fast jeden Tag zumindest einen Kartengruß, wenn nicht einen längeren Brief. Und jubelt etwa in Sizilien: „Soviel an Farbenpracht, Wohlgerüchen, Aussichten – und Wohlbefinden habe ich noch nicht beisammen gehabt.“

Kogel fährt Freud in seinem höchst lesenswerten Buch hinterher – nicht nur mit dem Finger auf der Landkarte, sondern, wie Anmerkungen über den heutigen Zustand von Hotels oder Sehenswürdigkeiten zeigen, ganz real.

Furcht vor „Quarantanien“

Doch ist „Im Land der Träume“ kein Reiseführer. Wenn überhaupt, ist es ein Führer zu Freud. Vom Unbehagen an der Kultur bis natürlich zum Moses haben viele Arbeiten Freuds ihren Auslöser oder ihre Vertiefung durch Italienerlebnisse. Ganz zu schweigen vom Leonardo-Aufsatz nach einem Mailand-Aufenthalt. Dieser „Leonardo“, so lässt er Lou Andreas-Salomé wissen, sei „das einzig Schöne, das ich je geschrieben“ habe. Aber man erfährt bei Jörg-Dieter Kogel auch viel über das Privatleben des Vaters der Psychoanalyse, sein gutes Einkommen – er reiste immer in den besten Hotels – und seine Lust, Mitbringsel für die Daheimgebliebenen einzukaufen.

Und man stößt ungewollt auf Verhältnisse wie heute unter Corona. Als im September 1910 in Neapel die Cholera ausbricht, befindet sich Freud gerade auf Sizilien zusammen mit seinem Schüler und Kollegen Sándor Ferenczi. „Um der Cholera auszuweichen“, bricht er die bis dahin äußert glücklich verlaufenen Reise ab. In Rom werden die „Ankömmlinge aus Neapel kontrollirt“, wie Freud erzählt, und werden ärztlich untersucht, ob sie etwa Träger von Cholera-Bakterien seien. Freuds größte Furcht heißt: „Quarantanien“. Doch, so schreibt Kogel, ihm bleibt das erspart und er ist froh, „zwei Fahrkarten für den Schlafwagen nach Wien ergattert zu haben.“

Fazit: Jörg-Dieter Kogel ist es gelungen, anschaulich und zugleich fundiert – man spürt erhebliche Recherchenarbeit auf breitem Grundwissen –  eine kleine Freudbiographie auf der Folie seiner Italienbegeisterung  zu schreiben. Und zugleich etwa von dem Italien vor 100 Jahren Jahre lebendig zu machen.

Und abends – Scala oder Elfo?

Nach Küche und Literatur – was tun am Abend? Man könnte mal wieder in die Scala gehen. Online bringt sie jetzt über Rai Play integrale Aufführungen heraus (hier der Kalender). Ab heute (2. April) Puccinis „Manon Lescaut“ vom vergangenen Frühjahr unter der Leitung von Riccardo Chailly mit Maria José Siri als Manon. Als ich vergangene Woche online bei der Scala war, ruckelte die Aufnahme noch. Mal sehen, ob es heute Abend besser klappt. Oder ich lasse mich vom Teatro Elfo Puccini überraschen, bei mir um die Ecke am Corso Buenos Aires – pardon: heute Abend bei mir zuhause – gibt es täglich (online hier) Klassiker aus der Geschichte der von Elio De Capitani und Ferdinando Bruni geleiteten Bühne zu sehen.

Wird fortgesetzt