Thomas Ostermeier eröffnet mit einer gelungenen italienischen Adaption seiner „Rückkehr nach Reims“ die Spielzeit am Mailänder Piccolo Teatro
Mailand (Piccolo Teatro Studio Melato) – Bereits im vergangenen Jahr hatte ein ausländischer Regisseur wie Declan Donnellan der Spielzeit des Mailänder Piccolo einen internationalen Auftakt beschert. In diesem Jahr konnte es internationaler kaum sein. Denn das Stück Ritorno a Reims („Rückkehr nach Reims“) ist bereits ein Länder und Sprachen übergreifendes Projekt des Deutschen Thomas Ostermeier nach dem autobiographischen Essay „Retour à Reims“ des Franzosen Didier Eribon. Aufführungen gab es zuvor mit jeweils lokalen Bezügen in Manchester (Sommer 2017), Berlin (Herbst 2017) und Paris (Winter 2019). Jetzt kommt Mailand dazu. Inhaltlich geht es um die Krise linker Politik angesichts wachsender populistischer und rechtsextremistischer Strömungen in Europa und den USA.
In seinem Essay fragt der Soziologe Didier Eribon danach, warum in Frankreich weite Bevölkerungskreise, aus denen früher die Mehrzahl der Stimmen für linke Parteien kamen, sich heute eher von Rechtspopulisten verstanden fühlen. Eribon wählte in seinem 2006 erschienen Buch einen biographischen Ansatz. Er erzählt von seiner proletarischen Herkunft in Reims, von Konflikten mit dem autoritären Vater, von der Flucht in die Szene der Intellektuellen nach Paris, seiner „sozialen Scham“ als Ex-Proletarier und seiner „sexuellen Scham“ als Gay. Wie er die Wurzeln zu seiner Herkunft verraten hatte, so – bei extremer Verkürzung seine Analyse – haben die linken Parteien ihre Wurzeln verraten und die Menschen auf dem Land und in den Stadträndern in die Arme der Populisten getrieben.
Wie bringt man einen Essay auf die Bühne?
Dem Theatermacher Ostermeier, der als Leiter der Berliner Schaubühne mit großartigen Inszenierungen von Shakespeare, Schnitzler und Tschechow auch international ein Star ist (Goldener Löwe der Theaterbiennale Venedig 2011, Kythera Preis 2018), bot der Essay eine Vorlage, sich dem Problem auf die Bühne zu stellen. Eribon und Frankreich sind nur eine Blaupause für Entwicklungen in vielen Ländern. Aber wie bringt man einen Essay auf die Bühne? Thomas Ostermeier drehte zunächst mit Didier Eribon ein Video über eine Reise des Soziologen in seine Heimatstadt und zu seiner Familie. Dazu mischte er Dokumentarbilder von Protestbewegungen und Figuren der Politik wie Mitterand,Blair oder Schröder.
Im Theater sieht man sich jetzt einem Synchronstudio gegenüber und einer Sprecherin (in Mailand Sonia Bergamasco – in Manchester und Berlin war das Nina Hoss), die den Text aus dem Eribon-Essay zu diesem Video aufnimmt. Hinter einer Glaswand im Regieraum kontrollieren ein Regisseur (Rosario Lisma) und ein Tontechniker (Tommy Kuti) die Aufnahme. Es kommt immer wieder zu Unterbrechungen, zu Diskussionen.
Die Darsteller bringen, von Ostermeier gewollt, ihre ganz persönlichen Sorgen und Ängste ein. Besonders überzeugend Sonja Bergamasco, deren von Zweifel geprägten Gesichtszüge von einer Kamera aus auf die Leinwand übertragen werden, auf der vorher das Reims-Video zu sehen war. Rosario Lisma spielt die Smartphone-Aufnahme einer spontan gehaltenen Rede bei einer Anti-Salvini-Demo ein. Weniger überzeugend wirkt der Versuch, die Zuschauer im Theater durch Animation zum Thema Berlusconi mit einzubeziehen.
Dem Tontechniker, dem afro-italienischen Rapper Tommy Kuti gehört das Schlusswort. Es werde sich nur etwas verändern, „wenn ihr nicht über uns, sondern uns für uns selbst sprechen lässt.“
Ein europäischer Brückenschlag
Gewiss kann man über die eine oder andere These von Eribon diskutieren. Thomas Ostermeier versteht seine Arbeit als „Beitrag zum antifaschistischen Kampf.“ Die „Rückkehr nach Reims“ ist dabei kein dramaturgische Seminarpapier, sondern bietet einen spannenden Theaterabend. Zwei Stunden vergehen wie im Fluge. Die Aktualität ist ungebrochen, wie die jüngsten Regionalwahlen in Thüringen oder Umbrien gezeigt haben. Man darf dem Piccolo, das mehr für seine Ästhetik denn für seine Experimentierfreudigkeit bekannt ist, für den Mut gratulieren, die Spielzeit mit solch einer postdramatischen Inszenierung einzuleiten, die sich zugleich als ein europäischer Brückenschlag versteht.
„Ritorno a Reims“ nach dem Buch von Didier Eribon „Retour à Reims“. Mit Sonia Bergamasco, Tommy Kuti, Rosario Lisma. Regie: Thomas Ostermeier. Dramaturgie: Florian Borchmeyer. Übersetzung: Roberto Menin. Bühnenbild: Nina Wetzel. Lichtdesign: Erich Schneider. Tondesign: Jochen Jezussek. Mit einem Video von Sébastien Dupouey und Thomas Ostermeier. Musik: Nils Ostendorf. Piccolo Teatro Studio Melato bis 16.11., Fondazione Romaeuropa 20. bis 23.11. Produktion: Piccolo Teatro di Milano – Teatro d’Europa 2019 zusammen mit Fondazione Romaeuropa nach einer Version der Schaubühne Berlin.
Info hier – und hier Probeneindrücke im Piccolo TV
Die deutsche Ausgabe des Essays von Didier Eribon ist unter dem Titel „Rückkehr nach Reims“ 2016 bei Suhrkamp erschienen