in der Oper: Ti vedo, ti sento, mi perdo


Eine neue Oper von Salvatore Sciarrino, die in die Welt des Barocks eintaucht, beschließt die Spielzeit der Scala

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Kommt er, kommt er nicht? – Die Sängerin (Laura Aikin) und der Literat (Otto Katzameier) warten auf Stradella

Mailand (Teatro alla Scala) – Es gehört schon Mut dazu, die Welturaufführung einer Oper in den November und damit ans Ende der Spielzeit der Scala zu setzen. Denn in der Regel ist die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit dann bereits auf die jedes Jahr besonders herausgeputzte Saisoneröffnung der Mailänder Bühne am 7. Dezember gerichtet. Doch die Entscheidung, mit einem Ausrufezeichen die Spielzeit zu beenden, erwies sich als richtig. Die neue Oper von Salvatore SciarrinoTi vedo, ti sento, mi perdo“ („Dich sehen, dich spüren, mich verlieren“), eine Auftragsarbeit der Scala gemeinsam mit der Staatsoper Unter den Linden (Berlin), konnte einen erstaunlichen Erfolg beim Publikum verbuchen. Die Kritik äußerte sich vorsichtig positiv bis ablehnend über die Inszenierung, doch wahrgenommen haben die Medien sie alle.

Der 70jährige, in Palermo geborene Salvatore Sciarrino, der in Umbrien lebt, ist mit seinem breit gefächerten Werk (Opern, Symphonien, Kammermusikstücken, Chören etc) einer der bekanntesten italienischen Komponisten der Gegenwart. 2016 wurde ihm auf der Musikbiennale Venedig ein Goldener Löwe verliehen. In seiner neuesten Arbeit setzt er sich mit dem heute weitgehend vergessenen Barockkomponisten Alessandro Stradella (1639 – 1682) auseinander, der immerhin als Erfinder der Form des Concerto grosso gilt. Stradella, der in seiner Zeit zugleich als Violinist Furore machte, führte ein unstetes Leben und war wegen seiner Frauengeschichten immer auf der Flucht vor eifersüchtigen Ehemännern und Partnern – von Rom nach Venedig und Turin bis nach Genua, wo er ermordet wurde.

Warten auf Stradella

In Sciarrinos Oper über ihn ist er jedoch der große Abwesende. In einem römischen Salon soll eine Arbeit von Stradella geprobt werden, man wartet darauf, dass der Komponist die Noten einer neuen Kantate für Sopran, Chor und Instrumente bringt. „In attesa di Stradella“ („Warten auf Stradella“) heißt auch der Untertitel des Stücks, ein Theater im Theater, für das Sciarrino selbst das Libretto geschrieben hat. Wartend vertreibt man sich die Zeit mit mal satirischen, mal inhaltsschweren Debatten über Musik und Philosophie sowie mit Anspielungen an das Leben des Komponisten. Im Salon tummelt sich eine bunte Gesellschaft von Komödianten, aus der die Rollen einer Sängerin (Laura Aikin), eines Musikers (Charles Workman) und eines Literaten (Otto Katzameier) neben zänkischen Dienern und Dienerinnen und einem Chor herausragen. Am Ende trifft dann statt der erwarteten Kantate die Nachricht vom Tod Stradellas ein.

Die zwei Akte der Oper sind in 20 Nummern geteilt. Jürgen Flimm hat diese Art Revue wie ein Zirkusspiel vergnüglich und in malerisch überzogenen Kostümen (Ursula Kudrna) inszeniert. Er zeigt sich im Programmheft begeistert über die Technik von Sciarrino, der Stradella neu belebt. „Als wenn er über ein Bild ein neues malen würde, wobei die alten Farben weiterhin durchscheinen.“

Merkwürdig spannungslos

Immer wieder klingen Notenfolgen Stradellas auf. Doch bleibt die musikalische Einbettung in die Klangwelt Sciarrinos, die sich hier selbst an barocken Regeln lehnt, merkwürdig spannungslos. Auch wenn sich der junge, 32jährige französische Dirigent Maxime Pascale zusammen mit dem Scalaorchester alle Mühe gibt, die Partitur schwungvoll umzusetzen. Außerdem: Man hat irgendwie das Gefühl, dass die Scala zu mächtig, zu groß sei für ein Stück, das vielleicht in einem intimeren Rahmen überzeugender wirken könnte.

Während die Kritik der meisten italienischen Tageszeitungen nach der Weltpremiere am 14. November verhalten positiv ausfiel – eine „raffinierte Collage“ urteilte il sole 24 ore und la Repubblica sprach trotz Einwänden von der „verführerischen Kraft der Musik“ – bemängelte der Corriere della Sera besonders das „Fehlen von Körperlichkeit der Musik“. Bei ihren Anfängen vor 40 Jahren sei die Musik Sciarrinos noch „revolutionär“ gewesen, heute wirke sie eher „manieristisch“, als wenn der Autor „ein Epigon seiner selbst“ sei.

Ti vedo, ti sento, mi perdo. Musik und Libretto: Salvatore Sciarrino. Mit u.a.: Laura Aikin, Charles Workman, Otto Katzameier, Sónia Grané, Lena Haselmann, Thomas Lichtenecker, Christian Oldenburg, Emanuele Cordaro. Musikalische Leitung: Maxime Pascal, Regie: Jürgen Flimm, Bühne: George Tsypin, Kostüme: Ursula Kudrna. Eine Auftragsarbeit des Teatro alla Scala und der Staatsoper Unter den Linden, Berlin. An der Scala bis zum 26.11. 2017, an der Staatsoper ab Juli 2018

Ein Interview mit Salvatore Sciarrino: hier