„IN MEINEM ROM“


Gastbeitrag: Zum Tod von Friedrich Christian Delius eine Grabrede von Peter Kammerer

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Friedrich Christian Delius. Rom, 13. Februar 1943 – Berlin, 30. Mai 2022

Urbino/ Berlin – Friedrich Christian Delius, 28, Stipendiat der Villa Massimo in Rom, schrieb 1971 in einem Gedicht an Nikolaus Born: Mensch Born,/ wenn Du hierher kommst, wirst du das alles auch erleben,/ auf deine gute Bornsche Weise, aber/ ich schreib dir schon mal, was/ mir so durch den Kopf geht,/ wenn ich beispielsweise mit zwei, drei/ Briefen rüber zum Briefkasten an der Piazza Bologna geh./ In diesen/ Briefen habe ich geschrieben: alles ok, etwas vom Frühling,/ etwas vom Tischtennis und unserer Arbeit, und etwas, was wir hier/ in den Zeitungen lesen –  FC arbeitete damals an der Fertigstellung von „Unsere Siemenswelt“. Er gab mir einen Durchschlag des Manuskripts zu lesen. Mir entging nicht die unmittelbar politische, wohl aber die große sprachliche Leistung dieser Satire und ihrer Methode der Enthüllung durch Nachahmung. Dann erteilte der Siemens-Konzern „den Linken aller Fraktionen“ Nachhilfeunterricht und strengte einen für den Autor existenzgefährdenden Prozess an. Beweis, „dass das Buch auch ganz nützlich ist“, hat er mir im Februar 1973, bei der Vorbereitung der bereits vierten Auflage geschrieben.  Und wenige Wochen vor seinem Tod bemerkte er im Rückblick: Damals kämpfte ich darum, ein Autor zu werden und kein Feigling zu sein. Das Letztere wäre verständlich gewesen, passte jedoch nicht zu meiner protestantischen Prägung.

Delius, ein Protestant in Rom, der die Stadt mit allen Sinnen aufnehmen wollte, wie er am Schluss des Gedichts an Born schrieb: In dieser halben Minute vor der Post – / Wieder dieser lächerliche/ Wunsch, möglichst viel um mich rum mit sämtlichen Sinnen aufzu-/ spiessen/ wahrzunehmen/ zu verstehn –/ Du kennst das ja, Born.

 Eher Rückzugsgebiet als Sprungbrett

Die Villa Massimo mit wunderbarer Vegetation und verwilderten Katzen war für die Stipendiaten eher Rückzugsgebiet als Sprungbrett in die römische Welt mit ihren vielfältigen Stadtlandschaften und kulturellen Strömungen. Enzensberger schrieb 1958: „Bonn in Rom, miserables Kunstghetto! Hier halte ich‘s nicht aus.“ Zehn Jahre später begannen die Stipendiaten, nicht ohne Konflikte mit der Direktion, eine Demokratisierung ihres Villendaseins durchzusetzen im Versuch, den Ghettogeruch abzustreifen. Aber es blieben, sagte Nikolaus Born, „geringe Erfahrungsmöglichkeiten“ und „eine gewisse Verfremdung, die im Aufenthalt hinter diesen Mauern steckt“.

„Das ist hier wie Honolulu“, sagte Thomas Bayrle. Delius griff das Wort auf und schrieb: Hinter der Mauer, hinter Stacheldraht/ findet, wer reinkommt, Honolulu:/ echtes Naturgrün und Appartements. … Und er schließt mit der Hoffnung, daraus, mit Wissen und Witz, was zu machen,/ was man in den nächsten Jahren noch brauchen wird/ in ruhigen Minuten und bei den Kämpfen,/ die unter diesen Zypressen/ besonders fern und unwahrscheinlich scheinen.

Es gibt keinen direkten Zusammenhang zwischen der Siemenswelt und der „römischen Welt“. Doch laufen die beiden Erfahrungen, wie so oft bei Delius, lange unterirdisch zusammen und treiben in späteren Werken gemeinsame Blüten.

Das Oeuvre und dessen verborgenes Wurzelwerk

 Ich muss gestehen, ich habe diese besondere Delius`sche Archäologie erst spät entdeckt und kann den Tag dieses Erlebnisses benennen. Es war der 3.12.2004. Im römischen Goethe Institut sollte „Mein Jahr als Mörder“ vorgestellt werden. Jahr für Jahr hatte ich im freundschaftlichen Austausch mit FC seine literarische Produktion und die Verleihung von Preisen verfolgt, aber an jenem Abend fiel es mir wie Schuppen von den Augen: ich sah erstmals keine Bücher, sondern ein ganzes Oeuvre und dessen verborgenes Wurzelwerk, das der Autor langsam und sorgfältig mit jeder Veröffentlichung freilegte. Die Veranstaltung musste auch für andere Zuhörer und selbst für FC besonders gewesen sein, denn am folgenden Tag schrieb er mir beglückt: „mich hat der abend sehr beflügelt – so viel zustimmung nun auch in meinem rom“.

„In meinem Rom“. In der Villa Massimo hatten Bayrle, Herzog, Knipp, Kürschner, Piwitt, Wittenborn – von Delius ausdrücklich als Mitadressaten des Gedichtes an Born erwähnt – im gemeinsamen Gespräch versucht, sich von Rom ein Bild zu machen, goethesche Impulse, Elegien und Energien mit den Sprechchören der Demonstrationen in Einklang zu bringen, immer wieder darüber verwundert, wie in diesem Italien „Hammer und Sichel, altmodisches Gerät“ , „Werkzeuge, noch wenig benutzt“, – heisst es in der „Römischen Elegie 4“ – zu Symbolen einer neuen Schönheit werden konnten.

Aber unter diesen Erfahrungen lag bei Delius noch eine andere römische Schicht, die wir nicht kannten und die damals vielleicht auch ihm selbst noch unbewusst war. Der latinisierte Name und der Geburtsort Rom 1943 waren nur schwache Anzeichen dafür, dass es etwas auszugraben gab.

Was du dann aus dem, was uns Zufall schien, hervorgeholt hast, erfuhren wir erst 2006 durch das „Bildnis der Mutter als junge Frau“. Du schriebst in mein Exemplar: „meinem ersten Cicerone in Rom“, doch in Wirklichkeit bist du seit jeher in Rom zu Hause gewesen, schon vor der Villa Massimo auf einer anderen „deutschen Insel“, und du hast im Schoß der Mutter die Stadt durchstreift bis zur Via Sicilia, wo du in der evangelisch-lutherischen Kirche die Choräle singen hörtest, das Lobet den Herrn, das die Mutter von ihrem Kapitänsvater so kräftig angestimmt kannte, also von deinem Großvater, der im November 1918 mit seinem U-Boot ohne den Wimpel der Revolution zu setzen in Kiel eingelaufen war und damit die Ehre der Kriegsflagge und des Kaisers gerettet hat.

Was andere Leute Zufall nennen

Diese Kirche in der Via Sicilia ist eine jüngere Schwester der Berliner Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche, also ein Ausläufer der wilhelminischen Siemenswelt. Bevor Du sie wiederentdeckt hast, hast Du 2001 noch einen kleinen Umweg über die Casa di Goethe gemacht und bist von da zwei Jahre später zur Einheirat im Hause Goethe zusammen mit Ursula auf das Kapitol gestiegen. Die Recherche über die Umstände Deiner Geburt musste im Zeichen Ursulas und Goethes zu jener Wiedergeburt führen, die Euch dann 12 Jahre zusammen in Rom gehalten hat. Ein anderes Italien. Die roten Fahnen waren verwelkt, die Ära Berlusconi war angebrochen, was konnte dieses Rom als Schau-Platz einem Schriftsteller bieten? Zum dritten Mal hat Dich Deine Sensibilität für Tiefenströmungen in die Via Sicilia geführt, wo Du hörtest, was außer Dir keiner gehört hat: wie ein deutscher Papst das lutherische „eine feste Burg ist unser Gott“ gebetet hat, deutlich und mit allen Strophen. Du hast Deinen Bericht davon am 8. Februar 2013 nach Berlin geschickt und drei Tage später ging die Meldung vom Rücktritt des Papstes durch die Welt.

Dein Sinn für das, was andere Leute Zufall nennen, zieht sich durch Dein ganzes Werk. Wo andere bloße Haufen von Sternen sehen, erkennst Du Sternbilder, knüpfst Deine Verbindungen und Fäden, an denen wir uns dankbar orientieren.

Während ich das schweren Herzens in Urbino schreibe, wo am Palazzo Ducale überall – zufällig –Dein FC prangt, höre ich von da, wo Du jetzt bist, Deine Stimme:

Mensch Kammerer,/ wenn Du hierher kommst, wirst du das alles auch erleben …

Hier zur Biographie auf der Homepage von Friedrich Christian Delius

 

Peter Kammerer (geboren 1938 in Offenburg), emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Urbino. Übersetzt u.a. Pasolini, Gramsci und (zusammen mit Graziella Galvani) Heiner Müller ins Deutsche. Zusammen mit Enrico Donaggio (Universität Turin) hat er zuletzt  für den Feltrinelli Verlag die Neuausgabe der italienischen Fassung von Friedrich Engels „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ (La situazione della classe operaia in Inghilterra) herausgegeben (Milano 2021). Außerdem hat er mit Enrico Donaggio das Kommunistische Manifest für Feltrinelli neu übersetzt und herausgegeben: Karl Marx/Friedrich Engels: Manifesto del partito comunista. (Milano 2017)