Triest, Ende August – Es ist früher Nachmittag, die Sonne brennt. Katzen rekeln sich unterhalb der Stufen des Teatro Romano. Träge ziehen ein paar Touristen vorbei und suchen den Aufstieg zum Castello di San Giusto. Wer sich auskennt, findet quer durch das benachbarte Parkhaus einen bequemen Fahrstuhl zum Vorplatz von Burg und Kathedrale. Vom Zinnengang blickt man dann auf die Stadt, die sich schläfrig in Erwartung kühlerer Stunden ans Meer schmiegt, das sich fast unbeweglich glitzernd bis zum Horizont ausbreitet. Wenige Schiffe liegen im Golf, darunter eine große Jacht mit zwei merkwürdig verdrehten dünnen Masten, die wie Antennen aufragen. Angeblich das von Behörden konfisziertes Luxusboot eines russischen Oligarchen. Ein rostiges Frachtschiff wird langsam zur Überholung in den alten Hafen geschleppt. Von wenigen Werfteinrichtungen abgesehen, liegt der alte Freihafen mit seinen Lagerhäusern untätig und verlassen dar und hofft auf ein zweites Leben. Die Masterpläne für eine neue Nutzung und Anbindung an die Stadt sind gezeichnet, jetzt wartet man auf ihre Umsetzung. Doch die Lokalpolitik bewegt sich so wenig wie das Meer an diesem Nachmittag.
Triest gleicht einer Stadt in Wartestellung. Man wartet auf eine schnelle Eisenbahnverbindung nach Venedig, Verona, Milano. Auf gesteigerten Umsatz im Hafen. Auf eine Wiederbelebung mitteleuropäischer Traditionen. Die hellen, frisch geputzten historischen Fassaden besonders im Borgo Teresiano wie im Borgo Giuseppino strahlen etwas Melancholisches aus. In die traditionellen Kaffeehäuser drängen Touristen, manche sind auf der Suche nach dem literarischen Erbe. Treffpunkte, an denen einst Michelstaedter, Joyce, Saba oder Svevo verkehrt hatten. Und heute ein Claudio Magris oder Veit Heinichen. Im Museo Revoltella werden gerade Selbstbildnisse von lokalen Künstlern des frühen 20. Jahrhunderts ausgestellt: ein Triest, das sich selbstverliebt in die Augen schaut. Es gibt wohl keine Stadt in Italien mit einer solchen Dichte von Antiquariats-Läden: Bücher, Leuchten, Möbel, Krimskrams aller Art in zentraler Lage.
Sicher: im Rücken der Erinnerungen breitet sich von der Natur der Karstlandschaft geschützt eine wohlhabende Stadt der Gegenwart mit ihren Versicherungen, Schiffbauunternehmen und Kaffeeproduzenten aus. Wissenschaftlichen Einrichtungen blicken in die Zukunft. Nach der Pandemie haben Besucher in großer Zahl die Stadt am Golf an der oberen Adria entdeckt. Und ihre von alt her freundlichen Einwohner, von denen Gustav Mahler einst gesagt hatte, sie seinen „schrecklich sympathisch“. Die kürzlich verstorbene schottische Autorin Jan Morris, die in Triest ihren Lebensmittelpunkt gefunden hatte, atmete hier den „Duft echter Zivilisation“. Ehrlichkeit sei in Triest noch die Norm, „Fanatismus hält sich im Allgemeinen in Grenzen, und die Menschen sind meist umgänglich, zumindest auf den ersten Blick.“
Zumindest auf den ersten Blick. Derweil wartet Triest ab.