KEIN LAMM ZU OSTERN


Briefe aus der Quarantäne (12): Schweigen und Natur, Europa und Solidarität,  Himmelstürme und Heilslinien

© Cluverius

Magisch – Installationen von Anselm Kiefer im Hangar Bicocca

Mailand (11. April) – Sonnabend vor Ostern, der fünfunddreißigste Tag im Ausnahmezustand. Eine Quarantäne, das sind 40 Tage, doch diese wird länger andauern: bis zum 3. Mai mindestens, so gestern die Ankündigung der italienischen Regierung. Die Zahl der Toten in der Lombardei hat die 10.000 überschritten, im Großraum Mailand sind es fast 2000. Gestern Abend, Karfreitag, konnte man auf der Facebook-Seite des Rossini Opera Festivals einer wunderschönen Aufführung von Rossinis „Stabat Mater“ aus dem Jahr 2015 (Dirigent Michele Mariotti) beiwohnen. Leider läuft das Streaming nur 24 Stunden bis heute am späten Nachmittag. In den Schlachtereien meines Viertels ist Lammfleisch seit dem frühen Morgen ausverkauft. Bei der Esselunga – Wartezeit heute in der Schlange 60 Minuten – gibt es nur Importware aus Neuseeland, Belgien oder Spanien. Wir werden mit Ricotta gefüllte Ravioli, Artischocken und zum Nachtisch Colomba essen. Das Lamm kommt auf die immer länger werdende Liste dessen, was wir in der Zeit „danach“ nachholen wollen.

Im Buch „Der Unendliche Faden“, in dem Paolo Rumiz von seiner Reise durch Benediktiner Abteien erzählt, zitiert der Autor den Abt von Kloster Göttweig: „Die Menschheit ist gestresst, sie hat ein enormes Bedürfnis nach Begegnung und Schweigen. Und Schweigen bedeutet nicht, sich in einer Zelle einzuschließen, sondern vor allem auch, in der Natur spazieren zu gehen. Und ernsthafte Gespräche zu suchen. So gelangt man zu sich selbst, findet man die Wahrheit der Seele.“ Diese Art „Schweigen“ wird uns – bis 200 Meter Spaziergang vom Wohnhaus sind erlaubt – im Augenblick verwehrt. Der Osterspaziergang morgen wird ein Gang schnellen Schrittes mehrmals um den Block.

Europäische Anfragen

Anrufer im Radio reden empört darüber, dass Länder wie Deutschland sich den sogenannten Eurobonds verweigern. Soll hier am deutschen Wesen Europa genesen? Entrüstete Kommentare auch bei Leserbriefen, in den Talkshows und in den sozialen Medien sowieso. Das Risiko dieser Anleihe, die im Augenblick besonders Italien, Spanien und Frankreich zu Gute kommen könnte, würden alle Ländern der Gemeinschaft gemeinsam tragen. Aus Deutschland hört man, dass der einheimische Steuerzahler nicht für die Schuldenpolitik der Südländer haften dürfe – so jedenfalls die offizielle Regierungsmeinung. Und obgleich es wichtige Gegenstimmen gibt, scheint das auch die Meinung der Mehrheit der Bevölkerung zu sein. Aber treibt man nicht geradezu die Schuldenpolitik der südlichen Staaten weiter an, wenn man ihnen diese Form von Hilfe verweigert?

Überhaupt: ist Europa eine Gemeinschaft, die sich nur in guten Tagen bewährt und in schlechten nicht? Wann gibt es endlich auch Mehrheitsentscheidungen wie in jeder demokratischen Einrichtung, bei der eine solidarische Mehrheit eine egoistische Minderheit zum Mitmachen bewegt? Alte Vorurteile brechen zur Zeit in Italien wieder auf. Nicht nur bei Fragen, bei denen es um Milliardensummen geht, sollte rational und nicht emotional entschieden werden. Doch kann ich die Empörung hierzulande verstehen. Auch wenn eine Abkehr von Europa gerade jetzt genau die falsche Reaktion wäre.

Die Türme der sieben Himmelspaläste

Jetzt also Ostern. Es gibt in Mailand einen geradezu magischen Ort, der auf seinen Art das jüdischen Pessach-Fest (Ende der Knechtschaft des Volkes Israel)  und das christliche Ostern (Überwindung des Todes) miteinander verbindet. Die monumentale Installationen der bis zu 27 Meter hohen „Türme der sieben Himmelspaläste“ im Hangar Bicocca von Anselm Kiefer u.a. aus Beton, Blei und Glas. Sie berufen sich die sich auf das Buch Sefer Hechalot  der Kabbala, das vom Zwischenhalt eines Weges zur göttlichen Weisheit erzählt. An den Wänden der Halle hängen riesige Landschaftsdarstellungen Kiefers zum Thema Mensch und Natur. Und „Die deutsche Heilslinie“ – ein Wegbeschreibung zu einer anderen, einer philosophischen Art des Absoluten. In diesen Coronazeiten hat der Pirelli Hangar Bicocca eine schöne Web-Seite  mit unterschiedlichen Zugängen zu den Kiefer Installationen eingerichtet.

Buona Pasqua, Frohe Ostern!

Wird fortgesetzt

© Cluverius

Österliche Natur in 200 Meter Entfernung – Mailand, Via Boscovich