Pesaro, das Rossini Festival 2010 und die Oper als Phantom
Pesaro (August 2010) – Was hat Bill Viola mit Gioachino Rossini gemeinsam? Beide haben in diesem Jahr einen Auftritt in der Galerie von Franca Mancini in der Adriastadt Pesaro. Die Galeristin veranstaltet regelmäßig parallel zum Rossini Opera Festival (ROF) unter dem Titel „Les Rencontres Rossiniennes“ Begegnungen von Gegenwartskünstlern mit dem Musikgenie, das Anfang des 19. Jahrhunderts ganz Europa mit seinen Melodien geradezu trunken gemacht hatte. Ein Alt-Rossinianer wie Bruno Cagli, der vor 31 Jahren das ROF mitbegründen konnte und heute die Accademia Nazionale Santa Cecilia in Rom leitet, hat keine Probleme, Gemeinsamkeiten zwischen der freien Filmsprache des amerikanischen Video-Künstlers und den „versteckten Energien“ von Rossinis Klangmaterial zu entdecken. So gab es zur Eröffnung der Ausstellung bei Franca Mancini Videos von Bill Viola wie „Angel’s Gate“ (1989) und ironische Musikstücke von Gioachino Rossini aus der Sammlung der „Péchés de Vieillesse“, den „Alterssünden“, die zwischen 1857 und seinem Tod 1868 entstanden sind. Und anschließend drängelte man sich im Garten der Galerie beim Aperitif unter einem leuchtend blauen Himmel, der das nahe Meer ahnen ließ.
Ein großes Familientreffen
Das ROF, das am Montag mit der Premiere des „Sigismondo“ eröffnet wurde, ist jedes Jahr ein großes Familientreffen von Musikern, Sängern, Journalisten und einem vorwiegend ausländischen Publikum. Man trifft sich auf der Piazza oder begegnet einander auf der langen Fußgängerstraße, die vom Teatro Rossini vorbei am Palazzo Ducale und dem Haus, wo Rossini 1792 geboren wurde Richtung Strand führt. Dort, wo eine große Bronzekugel, eine Skulptur von Arnaldo Pomodoro, über einer Brunnenschale schwebt.
Rund 95.000 Menschen leben in dieser heiteren aber im Vergleich zum nahen und von touristischer Partystimmung durchzogenen Rimini doch eher biederen Stadt. Eine gelungene Mischung aus unternehmerischem Wagemut, provinzieller Zurückhaltung und geradezu schwäbischer Sparsamkeit haben den Landkreis Pesaro-Urbino wohlhabend gemacht. Gewachsen auf einem Humus handwerklicher und technischer Traditionen, die bis in die Renaissance zurück gehen. Eine ehemals kommunistische Verwaltung, die sich heute sozialdemokratisch nennt, hat es verstanden, für funktionierende Behörden zu sorgen und sozialen Frieden zu verbreiten.
Die italienische Wirklichkeit macht dennoch keinen Bogen um diesen Grenzstreifen zwischen den Landschaften der Romagna und des Montefeltro. Die Lega Nord findet in den Dörfern des hügeligen Hinterlandes Richtung Urbino immer mehr Anhänger. Und der Oberstaatsanwalt von Pesaro nennt „Korruption, Steuerhinterziehung und Drogen“ die Hauptprobleme der Stadt. Was man ihr allerdings auf den ersten Blick nicht ansieht.
Internationales Flair an der Adria
„Was wollen Sie, das sind die Probleme der Provinz“, sagt Silvana Ratti, die ein großes Bekleidungsgeschäft mit internationalen Nobelmarken in einem umgebauten Adelspalast schräg gegenüber vom Rossini-Geburtshaus betreibt. Zusammen mit anderen Geschäftsleuten hat sie eine Vereinigung zur Unterstützung des ROF gegründet. Denn die Veranstaltungen während der zwei Festivalwochen im neoklassizistischen Teatro Rossini, im Sportpalast der Adriatic Arena (wo sonst die Basketballer von Scavolini Pesaro um Erstligapunkte kämpfen) und in den Konzertsälen der Stadt verbreiten hier an der Adria ein internationales Flair. Daran könnten alle verdienen, Kaufleute wie Taxifahrer, Hoteliers wie Restaurantbetreiber, Handwerker und Techniker, sagt Silvana Ratti, die jedes Jahr nach der Eröffnungspremiere einen Gala-Abend im Hof ihres Palazzo ausrichtet. Die meisten ihrer Gäste kommen (wie das Publikum der Opern, Konzerte und Liederabende) von auswärts. Die Leute von Pesaro sehen dem Treiben eher beiläufig zu, nur knapp neun Prozent der Eintrittskarten werden in der Stadt und der Region Marken abgesetzt.
Festivalintendant Gianfranco Mariotti wird dennoch nicht müde, das Festival als eine lokale Erfolgsgeschichte anzupreisen. Nach einer Untersuchung der Universität Bologna, setze die Wirtschaft der Stadt durch die Aktivitäten des ROF zehn Mal von dem um, was das Festival kostet. Um so absurder erscheint Mariotti die Kürzungspolitik der öffentlichen Hand. Zum Glück würden die lokalen Geldgeber (Stadt, Region und der Möbelfabrikant Scavolini als Hauptsponsor) bei der Stange bleiben, aber die Finanzierung durch den italienischen Staat sei in den vergangenen zehn Jahren um 40 Prozent zurückgegangen. Im Jahr 2001 habe man noch über einen Gesamthaushalt von sieben Millionen Euro verfügen, heute seien es nur noch fünf Millionen. Dennoch habe das ROF in allen Jahren eine ausgeglichene Bilanz vorlegen können. Und, so der Intendant stolz, trotz manchem Verzicht (etwa bei den Kosten für Bühnenbilder) habe man auch diesmal einen Spielplan vorgelegt, „der sich sehen lassen kann.“
Michele Mariotti – ein Kind des Festivals
Dazu gehört, neben dem „Sigismondo“, die Oper „Demetrio e Polibio“, das Erstlingswerk des jungen Rossini, das er vermutlich mit 16 Jahren schrieb. Außerdem werden u.a. eine Wiederaufnahme der „Cenerentola“ in der Regie von Luca Ronconi geboten, eine konzertante Aufführung von „Il viaggio a Reims“, die „Péchés de Vieillesse“ und das „Stabat Mater“. Als Dirigent des „Sigismondo“ und des Stabat Mater tritt zum ersten Mal der 1979 in Urbino geborene Michele Mariotti auf. Es ist der Sohn des Intendanten, dennoch läuft der Verdacht des Klientelismus ins Leere. Mariotti Filius, einer der Jungstars der italienischen Dirigentenszene, leitet bereits seit drei Jahren das Orchester der Oper Bologna, das traditionell auch das Festivalorchester in Pesaro stellt. Und noch vor ein paar Wochen konnte Michele Mariotti an der Mailänder Scala, wo er den „Barbier von Sevilla“ (u.a. mit Juan Diego Floréz) dirigierte, einen Triumph feiern.
Das ROF hat die Wahrnehmung des großen italienischen Komponisten und seiner Musik grundlegend verändert. Wurde Rossini bis in die 1970er Jahre hinein als Meister allein der komischen Oper rezipiert, von dem neben dem „Barbier von Sevilla“ vielleicht zwei oder drei weitere Titel auf den Spielplänen der Musiktheater auftauchten, so hat das Festival gelehrt, dass Rossini vor allem ein Meister der opera seria, der ernsten Oper ist.
Die Werkausgabe der Rossini-Stiftung
Möglich wurde dies durch eine in der Musikgeschichte einzigartige Zusammenarbeit zwischen der Rossini Stiftung, die an einer wissenschaftlich- kritischen Werkausgabe arbeitet, und dem Festival, die diese Stücke auf die Bühne bringt. „Sigismondo“ (aus dem Jahr 1814), dessen Handlung Regisseur Damiano Michieletto in ein Irrenhaus verlegt, und „Demetrio e Polibio“ (1812), den Davide Livermore als Geisterstück, als Phantom der Oper inszeniert, sind Welturaufführungen der Moderne.
Diese Erfolgsformel wird jetzt durch eine radikale Kürzungspolitik in Frage gestellt. Der Fondazione Rossini werden von Rom Jahr für Jahr die Mittel beschnitten. Sie stand sogar auf einer berüchtigten Liste des Kulturministeriums von „unproduktiven Kulturinstituten“, denen jede staatliche Hilfe versagt werden sollte. Dieses Schicksal konnte noch einmal abgewendet werden. Aber in Italiens Kultureinrichtungen ist durch die Politik von Androhungen und Rücknahmen ein Klima entstanden, das von Unsicherheit geprägt ist. Immer weniger Akteure haben den Mut zur inhaltlichen Kritik oder gehen das Risiko ein, nach formalen Neuerungen zu suchen . Der Präsident der Fondazione Rossini und frühere Bürgermeister von Pesaro Oriano Giovanelli führt das auf einen grundlegenden Verlust der politischen Kultur im Land zurück. Entscheidungen würden ohne öffentliche Diskussion getroffen. Man regiere nur mit Notverordnungen, denen das Parlament anschließend nur noch zustimmen könne, ohne sie grundlegend zu debattieren.
Und Intendant Gianfranco Mariotti zeigt sich von der Zivilgesellschaft enttäuscht. „Das wirkliche Drama Italiens liegt im Publikum, das alles hinnimmt und sich nicht mobilisiert.“ Das kritische Bewusstsein drohe sanft zu entschlafen. Alle Vorstellungen in Pesaro seien zwar ausverkauft, „an Liebhabern mangelt es nicht.“ Die Künstler fühlten sich jedoch von der Gesellschaft allein gelassen: „Wen interessiert unser Theater eigentlich noch?“ Wie es scheint vor allem Geschäftsleute wie Silvana Ratti, die sich, wie sie sagt, Pesaro ohne das Festival nicht mehr vorstellen könne.
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