Adriano Sofri, Franz Kafka und die Straßenbahn – ein Essay über Varianten bei der in viele Sprachen übersetzten Erzählung „Die Verwandlung“ entpuppt sich als philologischer Kriminalroman. Jetzt auch bei Wagenbach auf Deutsch.
Mailand/Berlin – Kann ein Übersetzer Straßenlampen mit Straßenbahnen verwechseln? Der italienische Journalist und Essayist Adriano Sofri fand diesen merkwürdigen Fehlgriff in einer zweisprachigen Ausgabe (Rizzoli 2001) der berühmten Kafka-Erzählung Die Verwandlung. Am Anfang des zweiten Teils las er im italienischen Text, dass die Lichtreflexe der tranvia elettrica hier und da die Zimmerdecke befleckten, während es dort, wo der zum Ungeziefer verwandelte Gregor lag, dunkel blieb. Auf der gegenüber liegenden Seite war der deutsche Originaltext abgedruckt: „Der Schein der elektrischen Straßenlampen lag bleich hier und da auf der Zimmerdecke…“
Da hatte die Übersetzerin Anita Rho wohl zu schnell gelesen und aus den „elektrischen Straßenlampen eine „elektrische Straßenbahn“ gemacht. Jedoch war dies die 21. Ausgabe einer Übersetzung aus dem Jahr 1935 und Anita Rho ist längst verstorben. Tram statt Lampen – hätte das nicht jemandem auffallen müssen, zumal es etwa bei Feltrinelli oder Einaudi längst korrekte Übersetzungen gab?
Sofri recherchiert, neugierig geworden, in Übersetzungen auch anderer Sprachen. Und, siehe da, Anita Rho war nicht alleine. Der Autor entdeckt in seinem jetzt bei Wagenbach übersetzten Essay Kafkas elektrische Straßenbahn eine „Internationale der Tram-Übersetzer“: im Türkischen wie im Holländischen, im Englischen wie im Spanischen. Sofri ahnt natürlich den Grund dieser Übereinstimmung und geht ihm gleichsam mit den Methoden eines philologischen Krimis nach. Aber bevor den Fall löst, verwebt er den Leser in teilweise abenteuerliche Lebensgeschichten einiger Übersetzerinnen und Übersetzer.
Das Plagiat des großen Borges
Zum Beispiel die der Deutsch-Spanierin Margarita Nelken, einer Frauenkämpferin gestorben 1968 in Mexiko, die von ihren politischen Gegner als „Jüdin, Feministin, Halbkünstlerin, Intellektuelle, Kommunistin, Hure“ beschimpft wurde. Und er belegt, dass Nelken 1925 die erste – anonym gebliebene – Übersetzerin der „Verwandlung“ ins Spanische war. Eine Übersetzung (mit Tram statt Lampen!), die Jorge Louis Borges 1938 wortwörtlich übernimmt und sich selbst als Autor der Übersetzung ausgibt. Ziemlich peinlich die ganze Geschichte für den großen Borges, der später nebenbei in einem unbeachtet gebliebenen Interview das Plagiat gesteht.
Dass es überhaupt zu dieser „Internationale der Tram-Übersetzer“ kommen konnte, liegt natürlich an der Geschichte der Veröffentlichungen der Verwandlung. Franz Kafka schrieb sie 1912/1913, ein Erstdruck (mit Lampen statt Tram) erschien im Oktober 1915 in zwei Ausgaben einer Zeitschrift, kurz gefolgt von der ersten Buchveröffentlichung (wieder mit Lampen) bei Kurt Wolff, Leipzig, in der Reihe „Der jüngste Tag“. Bei Wolff erschien auch 1917/1918 eine zweite, von der Kritik als „verschlimmbessert“ bezeichnete Auflage, in der dann endlich zu lesen ist: „Der Schein der elektrischen Straßenbahn lag bleich hier und da auf der Zimmerdecke…“ Weitere Ausgaben nach dem Tod von Kafka 1924, vor allem die von Max Brod in Berlin 1935 betreute Werkausgabe, kehrten zur ursprünglichen Fassung (Lampen statt Tram) zurück. Man konnte davon ausgehen, dass Kafka die Ausgabe von 1918 nicht Korrektur gelesen hatte.
Liegen statt bewegen
Doch, fragt sich Sofri, kann man wirklich davon ausgehen? Wird diese Ausgabe nicht heute noch im Internet (Gutenberg-Projekt) vertrieben? Stimmt nicht die Straßenbahn an dieser Stelle auf das Finale der Erzählung ein, die nach dem Tod des Monster-Gregors mit einer Tramfahrt der Familieangehörigen endet – einer Tramfahrt „ins Freie vor die Stadt“? Hat nicht Felice ihre Briefe an Kafka teilweise in einer Straßenbahn geschrieben und der Schriftsteller antwortet mit einer Hommage? Sofri fühlt sich zu den Tramlichtern, zu dieser vielleicht von Kafka selbst eingefügten Variante hingezogen. Und diskutiert das phantasievoll an Texten des Prager Schriftstellers und an denen seiner Interpreten – allen voran an Hartmut Binders 600-Seiten-Werk Kafkas „Verwandlung“ – Entstehung, Deutung, Wirkung (erschienen 2004 bei Stroemfeld).
Aber ach, wenn nur das Verb „liegen“ nicht wäre. Seit wann liegt der Schein einer vorbeifahrenden elektrischen Straßenbahn bleich auf der Zimmerdecke und bewegt sich nicht?
Fenster und Türen, die ausschließen
Adriano Sofri ist ein Intellektueller, der in Reportagen wie reflektierenden Essays („Der Knoten und der Nagel“) kulturelle, gesellschaftliche und politische Fragen feinfühlig aufgegriffen hat. Und er ist zugleich ein Gezeichneter: der ehemalige Vordenker der linken Bewegung Lotta Continua wurde 1997 nach einem höchst umstrittenen Prozess über 11 Instanzen wegen (angeblicher) Anstiftung zum Mord an den Polizeikommissar Luigi Calabresi zu einer 22jährigen Haftstraße verurteilt, die – vermindert auf 15 Jahre – 2012 abgelaufen war.
Zum Ende seines Essays schreibt der Autor unter der Überschrift „Fenster“: „Der Zweikampf zwischen drinnen und draußen, der die Verwandlung wie das ganze Leben Kafkas durchzieht – Gregor innen Mensch und außen Insekt, die vom Unglück heimgesuchte Wohnung und das glückliche Leben draußen, Fenster und Türen, die ausschließen und schließen –, ist das Wesen des Gefängnisses. Jemand musste Franz Kafka verleumdet haben, denn er wurde Experte für Hausarrest.“
Mit Kafkas elektrische Straßenbahn ist dem heute 77jährigen Adriano Sofri ein kleines Kabinettstück zur Literaturgeschichte gelungen. Annette Kopetzki hat den Essay ins Deutsche übertragen. Die Hamburgerin wurde gerade mit dem Paul-Celan-Preis für herausragende Literaturübersetzungen ausgezeichnet.
Adriano Sofri: Kafkas elektrische Straßenbahn. Wie die Verwandlung verwandelt wurde – ein philologischer Krimi. Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin (2019). 160 Seiten, 20 Euro
Zur Veröffentlich der Originalausgabe „Una variazione di Kafka“ (Sellerio 2018) war ein Beitrag in der Neuen Zürcher Zeitung am 6.4.2018 erschienen