MIT EINEM KLICK ZUR AIDA


Das Archiv der Casa Ricordi geht online. Ein Besuch der weltweit größte Sammlung von Dokumenten zur Musikgeschichte. 

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Mit Handschuhen und spitzen Fingern – Arbeit im Mailänder Ricordi Archiv

Mailand – Hinter schweren Panzertüren eines Seitenflügels des Palazzo Brera in Mailand lagert in klimatisierten Räumen eine Welt klangvoller Namen. Handschriftliche Partituren der Werke von Gioachino Rossini bis Giuseppe Verdi, von Giacomo Puccini bis Luigi Nono und Luciano Berio haben die Zeit im Archiv des ehemaligen Ricordi Musikverlages überdauert. Das Archiv der Casa Ricordi, das inzwischen zum internationalen Bertelsmann Imperium gehört, ist das weltweit größte Archiv zur Musikgeschichte überhaupt. Erste Eintragungen gehen auf das Jahr 1808 zurück.

Neben über 7000 Partituren der bedeutendsten Opernkomponisten Italiens des 19. und 20. Jahrhunderts findet man eine ikonographische Sammlung ihrer Werke mit Originaldokumenten zu Bühnenbildern und Kostümen. Dazu kommen Libretti, Fotografien und 15.000 Briefe (davon allein mehr als 1.500 von Verdi). Und neben Zeitschriften und Büchern wird hier die geschäftliche Korrespondenz eines Unternehmens aufbewahrt, das mit Niederlassungen etwa in London, Wien oder Sankt Petersburg bis zum ersten Weltkrieg eine Art Monopol in Europa ausgeübt hatte.

Der Scanner summt

Wer bislang ein Dokument aus dem Nachlass einsehen wollte, musste nach Mailand reisen und es sich in einen abgesonderten Saal der von Kaiserin Maria Theresia gegründeten Biblioteca Braidense im Palazzo Brera bringen lassen. Das ändert sich langsam. Denn in einer Kammer der Tresorräume des Archivs summt unablässig ein überdimensional großer Scanner. Nach und nach werden die Dokumente digitalisiert. Seit Jahresbeginn ist bereits die ikonographische Sammlung online. Das sind rund 13.000 Objekte geordnet nach Werken und Personen – Zeichnungen, Skizzen und Plakate, sowie Angaben zur Ausstattung und zur Inszenierung meist der Uraufführungen.

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Im Inneren des Tempio di Vulcano – Szenenentwurf für die Aida (Scala 1872)

Denn Ricordi war nicht nur Musikverleger. Er war auch Impresario, stellte das Programm für Opern- und Konzertabende zusammen, kümmerte sich um Besetzung, Regie und Ausstattung und schickte die Aufführung auf Reisen. Dazu druckte er entsprechende Begleitbücher, in denen alle wichtigen Angaben bis hin zu Skizzen über die Position von Sänger und Chor auf der Bühne verzeichnet waren. Man kann jetzt zuhause auf dem PC zum Beispiel das originale Aufführungsbuch der Aida, das nach der Premiere von 1872 an der Scala zusammengestellt wurde, Seite für Seite durchblättern.

Der Einfluss des Unternehmens auf die italienische Musikszene – später auch die der Popmusik – blieb bis in die 1960er Jahre konstant. Und so stößt man mit einem Klick etwa auf einen zeichnerischen Entwurf der Titelseite für das Libretto der vielen unbekannten Oper „Luisella“ nach der gleichnamigen Erzählung von Thomas Mann (Musik Franco Mannino, Uraufführung1969 in Palermo). Im 20. Jahrhundert gesellten sich zum Musikverlag außerdem noch ein Platten-Label und eine Ladenkette. Aber langsam verlor die Familie an Einfluss. Im Jahr 1994 kam das Ende der Dynastie: Bertelsmann übernahm die Casa Ricordi und fing an, sie Zug um Zug auszuweiden. Der Musikverlag hat seine Eigenständigkeit verloren und gehört mit Sitzen in Mailand und Berlin inzwischen zur internationalen UGM-Vivendi-Gruppe. Das Platten-Label ging im Gemeinschaftsunternehmen BMG-Sony auf. Und Feltrinelli übernahm die Ricordi-Music-Stores.

Bertelsmann und das Mailänder Archiv

Allein das über 200 Jahre alte Mailänder Archiv, das mit fast 140 Tausend Bestandsnummern heute selbst eine Aktiengesellschaft bildet, ist im unmittelbaren Besitz der Bertelsmann AG geblieben. Helen Müller, Leiterin der Abteilung „Cultural Affairs und Corporate History“ nennt das im Gespräch einen Akt des „Kultursponsoring“. Der sei eng mit der inhaltlichen Ausrichtung von Bertelsmann verbunden, das als Medienunternehmen einerseits vom westfälischen Gütersloh aus auf eine 181jährige Tradition zurückblicken kann und andererseits inzwischen global agiere. Man wolle, sagt die Historikerin, „Kultur und Geschichte der Unternehmen, die im Laufe der Zeit zu Bertelsmann gekommen sind, respektieren und bewahren.“

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Prometeo von Luigi Nono mit handschriftlichen Notizen des Komponisten (1985)

Die Digitalisierung geht einher mit einer umfassenden Katalogisierung. Denn, so Archivdirektor Pierluigi Ledda, Teile des Nachlasses seien bislang überhaupt noch nie erfasst worden. Der 36jährige Kulturmanager schätzt, dass mit der ikonographischen Sammlung bislang nur etwa fünf Prozent des Gesamtarchivs online sind. Bis zum Ende des Jahres soll ein Register der Partituren – die handschriftlichen Originale können aus rechtlichen Gründen nur in Ausnahmefällen vollständig online gestellten werden – sowie ein Register der Briefe folgen. Anschließend kommen Fotografien und Druckerzeugnisse (Libretti etc) dazu.

Ein Hub für die Opern- und Musikwelt

Ledda möchte einen „Hub“ für die Opern- und Musikwelt aufbauen, der für die Wissenschaft ebenso nützlich sein kann wie für den Musikbegeisterten. Wichtig ist ihm die Vernetzung mit anderen Initiativen. Eine entsprechende Vereinbarung besteht bereits mit dem Bellini-Studienzentrum in Catania. Zugleich soll der Internet-Zugang Ausstellungen bereichern wie die über Verdis „Otello“ jüngst in Madrid oder Rossinis „Gazza ladra“ zu Ostern in Mailand. Das Archiv half ebenso bei der Rekonstruierung der selten gespielten Verdi-Oper „Stiffelio“, die Anfang Februar in Berlin semiszenisch aufgeführt wurde.

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Musik macht Mode – Kollektion Dolce & Gabbana 2017

Bei den Mailänder Frühlings-Modewochen zeigten Dolce e Gabbana – das Modehaus ist auch ein Sponsor der Scala – Herren Seidenhemden der Alta-Sartoria-Kollektion. Sie waren bedruckt mit den Noten von Partituren verschiedener Verdi-und Pucciniopern nach originalen Vorlagen aus dem Nachlass. Eine „Zusammenarbeit“, die man sich bei Ricordi natürlich bezahlen lässt. Alle Einnahmen aus Lizenzvereinbarungen, so versichert Helen Müller, „kommen dem Erhalt des Archivs zu Gute.“ Berührungsängste haben die Gütersloher jedenfalls nicht.

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Gut gelaunt – Denkmal für Giulio Ricordi vor der Mailänder Scala

Eine etwas sperrige Hinterlassenschaft muss man nicht in der virtuellen Welt des Digitalen oder hinter den Panzertüren des Archivs suchen. Eine Marmorstatue von Giulio Ricordi aus den 1920er Jahren, die bislang in einem Mailänder Garten versteckt war, hat frisch restauriert seit Ende November einen festen Platz auf der Piazzetta neben dem Teatro alla Scala gefunden. Der Verleger von Verdi und Puccini ist da zu sehen, wie er zum hektischen Straßenverkehr des 21. Jahrhunderts zu seinen Füssen vergnügt lächelnd mit den Fingern gleichsam den Takt schnippt. Ein Ricordi geht eben immer mit der Zeit.

Archivio Ricordi Info: http://digital.archivioricordi.com

Siehe auch den Beitrag in der Neuen Zürcher Zeitung vom 9.5.2017