MIT ZARTEN FALTEN


Zu Tisch: Das panierte Kalbsschnitzel – als Cotoletta von Mailand aus gesehen

Saftiges Kalbsfleisch und eine Panade aus Brotbrösel - niemals Mehl!

Saftiges Kalbsfleisch und eine Panade aus Brotbrösel – niemals Mehl!

Eine Geste wie eine Liebkosung: Vorsichtig drückt Cesare das Kotelettstück mit der Handfläche, dass es nicht mehr als circa zwei Zentimeter dick ist. Dann wird es in gequirltem Ei gewendet, mit Brotbröseln überstreut und wandert schließlich in die Pfanne mit dem heißen Butterschmalz. Cesare lässt es auf jeder Seite zusammen mit Salbei rund vier Minuten braten. Etwas Salz und fertig: einheitlich goldbraun überzieht die Panade diese Cotoletta (oder Costoletta) milanese, wirft zarte Falten und Wellen wie die kaum bewegten Wasser eines Sees. Wenn man es aufschneidet, leuchtet das Fleisch frisch rosa. Gleich beim ersten Biss vermischt sich im Mund der buttrige Geschmack der knusprigen Panade mit dem saftigen Kalbsfleisch. Aber zum Panieren gehört doch Mehl? Nein!!! Cesare bekommt fast einen Schreikrampf, niemals Mehl bei einem Mailänder Schnitzel. Und bitte auch nicht flach klopfen. Dann könne man doch gleich nach Wien gehen.

Der wuschelköpfige Cesare Battisti ist Inhaber und Küchenchef des Restaurants Ratanà in Mailand, das er vor ein paar Jahren am Rande des neuen Hochhausviertels unweit des Garibaldibahnhofs in einem Jugendstilgebäude eröffnet hat. Ursprünglich war hier ein Gleislager untergebracht. Als der heute 45jährige Koch es zum ersten Mal besichtigte, lag noch viel altes Schienenmaterial herum. Er ließ es einschmelzen und befreundete Architekten benutzten es zur Gestaltung von schweren Gartentischen wie für ein mächtiges Weinregal, das bis zur Decke hoch den kleinen Saal des Restaurants von der Küche trennt. „Ohne Geschichte kommt man nicht weit“, kommentiert er, aber man müsse sie interpretieren.

Küchenchef Cesare Battisti

Küchenchef Cesare Battisti

Das gilt ebenso für seine Gerichte, eine zeitgemäße Auslegung lombardischer Traditionen. Risotto, Ossobuco etwa, aber auch Büffelricotta mit gratinierten Feigen als Antipasto oder Pasta fagioli eine Bohnen-Pasta-Suppe mit Kräutern und frischem Thymian als Primo. Und eben die beliebte Cotoletta milanese, la cutuléta wie sie im Dialekt heißt. Bei Cesare muss man sie vorbestellen. Sie ist Chefsache und er braucht für sie zwanzig Minuten in der Küche. Mindestens.

Ein prächtiges Stück Kalbskarree

Das Fleisch wird frisch von seinem Vertrauensschlachter Mauro Brun geliefert. Der präsentiert in einem kleinen Laden in der Viale Brianza im Norden Mailands stolz ein prächtiges Stück Kalbskarree, aus denen acht Rippenknochen ragen. Es stammt von einem Kalb aus dem Piemont, das von seinem Züchter noch mit Milch und Eiern großgezogen wurde. Für ein edles, mindestens 350 Gramm schweres Kotelett, kommt nur ein Teilstück aus dem Rücken, dem sogenannten Hinterviertel eines sechs Monaten alten Kalbs in Frage. Das Fleisch muss dann noch 15 Tage abhängen, bevor es in den Laden kommt, wo es für 35 Euro pro Kilo über den Tisch geht. Cesare verlange mindestens daumendicke Scheiben, erzählt der weißhaarige Schlachter. Der Mailänder Normalkunde ziehe dünnere vor, die seien preiswerter und einfacher zuzubereiten. Und vom Schwein? Der Schlachter zuckt zusammen: „Merken sie sich: echtes Mailänder Schnitzel gibt es nur, absolut nur vom Kalb!“

copyright Fabrizio Cicconi / essen&trinken

Die Cotoletta im Nuovo Macello…

Puristen verlangen eine Cotoletta milanese „mit Griff“, oder wie es im Dialekt heißt cunt el manic, also mit einem kurzen Knochenansatz. Giovanni Traversone weist deshalb auf der Speisekarte seines Ristorante Nuovo Macello gleich neben dem ehemaligen Mailänder Schlachthof auf den feinen Unterschied hin. Mit oder ohne Griff, die Qualität einer Scheibe aus dem Karree bleicht jedoch absolut gleich – und ebenso die Wartezeit von 25 Minuten im Nuovo Macello. Das Restaurant wurde 1955 vom „Nonno“, vom Großvater Traversone in den Räumen einen Kneipe gegründet, die bereits früh morgens ab die Leute vom Schlachthof bediente. Jetzt pflegt man „innovative Mailänder Küche“ wie einen Sommer-Minestrone auf Basis von Sellerie-Tomaten-Gazpacho oder Risotto e erborin (mit Petersilie, Lime und marinierten kleinen Tintenfischen). Die Zubereitung der Cotoletta ähnelt der klassischen, die der Besucher bereits im Ratanà kennen gelernt hatte, Giovannis „cutuléta“ ist etwas dicker (gut drei Zentimeter), wundervoll rosa im Schnitt und die Panade vielleicht etwas zarter. Der große Unterschied ist die Weinempfehlung. Während man im Ratanà strikt zu einem Weißen, etwa zu einem Chardonnay rät, schlägt Giovanni einen Roten aus dem Mailänder Umland vor, einen stillen Gutturnio aus dem Piacentino zum Beispiel.

Eine Mailand Connection des Wiener Schnitzels?

Wie aber kam das Kotelett einst von Mailand nach Wien, wie man hier und da lesen kann? Vermutlich gar nicht, sagt der Küchenchef des Nuovo Macello. Panierte Schnitzel vom Kalb oder auch vom Schwein gab es im Reich der Habsburger wie auch in Frankreich schon länger. Die Geschichte, dass das Rezept von Feldmarschall Radetzky dem Kaiser Franz Josef empfohlen wurde, ist wohl die pure Erfindung eines sizilianischen Journalisten. Der verbreite diese Mär in seinen (auch ins Deutsche übersetzen) Büchern. Woraufhin sogar die ehrwürdige Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“ in den 1960er Jahren sich die Theorie einer „Mailand Connection“ des Wiener Schnitzels zu eigen machte. Jahre später stellte sich heraus, die Dokumente, auf die sich diese Theorie beruft, gibt es gar nicht.

Das Team im Nuovo Macello - rechts Giovanni Traversone

Das Team im Nuovo Macello – rechts Giovanni Traversone

Ging der Weg vielleicht anders herum, von Wien nach Mailand? „Unmöglich“ sagt Giovanni, der in seinen Lehrjahren sowohl in Frankreich als auch in Deutschland (u.a. bei Heinz Winkler im Chiemgau) Halt gemacht hatte und heute von kerzengerader Gestalt und mit einem graumelierten Bart italienischen Küchenadel repräsentiert. Das Wiener Schnitzel sei überhaupt nicht mit der Cotoletta milanese zu vergleichen. Jenseits der Alpen würde man es dünn ausklopfen und mit Mehl panieren. Und dabei verzieht der 46jährige etwas das Gesicht. Allerdings sei gegen ein bisschen Mehl am Anfang nichts zu sagen, aber nur, damit sich das Ei besser ans Fleisch binde.

„Lombolus cum panito“ ein Rezept Anno 1134

copyright Fabrizio Cicconi / essen&trinken

… und in der Trattoria Arlati

Was schließlich die Geschichte angeht, gibt es eine dokumentierte Schrift aus dem Jahr 1134, die Pietro Verri in seiner 1783 erschienenden „Geschichte Mailands“ zitiert. Danach bot der Abt des Klosters von Sant’Ambrogio seinen Gästen „Lombolos cum panitio“, also panierte Koteletts an. Damals wurde Wien noch von den Bajuwaren beherrscht…

Zugegeben, man kennt auch in Mailand die Form eins breit ausgeklopften Koteletts, die im Dialekt uregia d’elefant, also „Elefantenohr“, genannt wird. Die Riesenscheibe klappt dabei über den Tellerrand. Eine Modeerscheinung, nennen das unsere beiden Chefkochs unisono. Außerdem ungesund. Wird doch zur Zubereitung sehr viel mehr Ei und Butter benötigt. Eine Art Zwitter findet man in der Trattoria Arlati im Bicocca -Viertel am nördlichen Stadtrand, wo einst die großen Stahl- und Maschinenwerke (Pirelli, Breda) lagen und heute eine große Universität angesiedelt ist. Die Trattoria, 1936 gegründet, ist das älteste Speiselokals Mailands, das ununterbrochen in der Hand einer einzigen Familie liegt. Damals öffnete es bereits um 4 Uhr morgens, wenn die Nachtschicht aus den Fabriken nach Hause ging und die erste Frühschicht begann, nicht ohne sich vorher mit einem Grigio verde (Grappa mit Menta) zu stärken. Mittags wurde dann in drei Schichten gegessen: zuerst die Arbeiter, dann die Angestellten und schließlich die Chefs. Am Nachmittag gab es nur Bar-Betrieb. Und bevor das Fernsehgerät in den 1960er/1970er Jahren in aller Haushalte einzog, stand ein Kasten hier in der Trattoria Arlati, wo sich die Familie der Nachbarschaft versammelten, um am neuen Erlebnis – in Gemeinschaft – teilzuhaben.

Die Cotoletta gehört hier zur Sozialgeschichte. Heute noch, so erzählt der 41jährige Leonardo Arlati, Padron in dritter Generation, wird hier seit damals nach dem Rezept der „Nonna“, der Großmutter zubereitet. Etwas breit geklopft, aber so, dass sie noch zusammen mit Ofenkartoffeln auf den Teller passt. Natürlich mit einer Panade aus Brotbröseln. „Was sonst?“

Die Kochkunst von Oma Arlati

Leonardos Vater machte das Lokal zu einem Künstlertreffpunkt. Im Keller trafen sich in den 1970er Jahren junge Sänger, Maler und allerlei Bohemiens. Von Lucio Battisti bis Loredana Bertè, von Renato Zero bis Paolo Conte. Es wurde viel Musik gemacht und man redete sich die Köpfe heiß. Noch heute finden im Keller mit der kleinen Bühne zwei Mal die Woche Veranstaltungen statt. Und zwischen den Regalen voller verstaubter Weinflaschen hängen und stehen Kunstwerke aus vielerlei Perioden. Die Küche hält sich dagegen ganz volkstümlich an die Art von Oma Arlati, wenn auch hier und da die Speisen etwas leichter zubereitet und in kleineren Portionen serviert werden. Zum Beispiel Risotto al salto (beidseitig in der Pfanne angeschwitzt), Pisarei e fasò (Gnocchi mit Bohnen und Tomaten) – und natürlich die Cotoletta.

Cotoletta oder, wie in alten Büchern zu lesen ist, Costoletta? Ach, lasst doch die Historiker um ein „s“ streiten und die Wiener ihr Schnitzel genießen, dem Gast in Mailand läuft derweil das Wasser im Mund zusammen.

Die Trattoria Arlati in den 1930er Jahren

Die Trattoria Arlati in den 1930er Jahren

Die besprochenen Restaurants:

Ristorante Ratanà
Via Gaetano de Castillia 28
Tel. 0039 02 87128855
[email protected]
tgl. geöffnet mittags + abends
http://www.ratana.it/contatti.html

Trattoria del Nuovo Macello
Via C. Lombroso 202
Tel. (0039) 02 599902122
[email protected]
Sa mittags + So geschl.
http://www.trattoriadelnuovomacello.it/contatti/

Trattoria Arlati
Via Alberto Nota 47
Tel 0029 02 6433327
[email protected]
Sa mittags + So geschl.
http://www.trattoriaarlati.it/home/contatti.html

Der Text ist in ähnlicher Form erschienen in der Zeitschrift essen & trinken, Heft 11/2016

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