MUTTER, TOCHTER, SPIEGELBILDER


Helena Janeczek: Lektionen des Verborgenen. Die Generation der Holocaust-Kinder setzt sich mit den Leiden der Eltern auseinander. Eine Begegnung mit der Autorincopyright Cluverius

Mailand (Dezember 1999) – In welcher Sprache spricht man? In der Regel zuhause in der Muttersprache. Anderswo, wo es Not tut, behilft man sich mit einer Fremdsprache. Der 1964 in München geborenen Jüdin Helena Janeczek, die jetzt in Italien lebt, ist ihre Muttersprache fremd. Fremd in dem Sinne, daß sie das Polnisch ihrer Mutter Franziska nicht beherrscht, nur Bruchstücke versteht. Warum sie das Buch „Lektionen des Verborgenen, in dem sie den Holocaust und das Verhältnis zur Mutter thematisiert, aber zunächst auf Italienisch („Lezioni di tenebra“, Mondadori 1997) veröffentlicht, ist eines dieser Lehrstücke, von denen das Buch handelt.

Die Eltern der Münchnerin waren 1946 nach antijüdischen Ausschreitungen von Polen nach Deutschland geflohen, um von dort aus in die USA auszuwandern, was aber wegen einer Krankheit des Vaters damals nicht möglich war. So baute sich Franziska Janeczek in München eine neue Existenz auf, importierte Schuhe aus Italien, und galt bald als Italienerin. „Sie erklärt gerne mit der Koketterie einer großen Kosmopolitin, daß sie viele Sprachen spreche und allesamt schlecht. Fließend spricht sie drei: Polnisch, Deutsch und Italienisch.“

Deutsch – auch die Sprache der Mörder

Später, als die Tochter Helena in Gallarate bei Mailand lebt, spricht die Mutter mit ihr in der Öffentlichkeit Italienisch, um nicht als Deutsche zu erscheinen, aber „dann sprachen wir es trotzdem, weil es die Sprache war, die uns spontan kam.“ Denn Helena hatte in den ersten zwanzig Jahren in München erst nach und nach gelernt, daß sie nicht nur keine normale Deutsche ist, weil ihre Eltern aus Polen stammen. Deutsch war auch die Sprache der Mörder gewesen, die Großeltern, Onkeln, Tanten, Kusinen und Kusins im Vernichtungslager Auschwitz umgebracht hatten. Wie durch ein Wunder war ihre Mutter von Auschwitz-Birkenau wieder abkommandiert worden und konnte als einzige der Verwandtschaft überleben.

Erst nach dem Tod ihres Vaters begann Helena, die Geschichte ihrer Eltern auch als eine eigene Geschichte zu verstehen. Bis sie schließlich zusammen mit der Mutter eine Reise nach Polen unternimmt, die sie unter anderen nach Auschwitz und die Heimatstadt der Eltern, Zawiercie, führt. Dies ist eine Reise in die Vergangenheit, aber auch eine zum Ich der Autorin. Helena Janeczek benutzt sie, um das schwierige und zugleich schöne Verhältnis zu ihrer Mutter zu beschreiben.

 Mit erfrischender Selbstironie

 Sie erzählt, wie sie sich langsam des langen Schattens bewußt wird, der auch einfache Alltagsfragen bestimmt hat – die nach Rauchen oder Nichtrauchen zum Beispiel oder der Umgang mit einer Eßsucht. Mit erfrischender Selbstironie und einem ganz unaufdringlichen Umgang mit psychologischen Wissen gelingt es der Autorin, den Leser immer tiefer in diese Tochter-Mutter-Beziehungen zu ziehen, die zugleich auch ein nachdenklicher Beitrag zum deutsch-jüdischen Verhältnis liefern.

Es waren diese „Lektionen des Verborgenen“, welche die junge Helena aus ihrem deutschen Sprachraum (und dem polnischen ihrer Mutter) in den italienischen auswandern ließen. In Italien fand Helena, die hier heiratete, ein eigenes Zuhause. Heute arbeitet sie als Lektorin für deutsche Literatur beim Mondadori Verlag. Die „Lektionen des Verborgenen“, von Moshe Kahn einfühlsam übersetzt, sind jetzt bei Kiepenheuer & Witsch herauskommen konnten. Die Autorin hat es selbst nicht übersetzt, „denn Übersetzen heißt auch Neuschreiben.“

Ein Akt der Befreiung

Ein neues Buch, an dem die Autorin arbeitet, schreibt sie wieder auf italienisch. Es scheint so, als habe Helena Janeczek mit dieser dritten Sprache einen Akt der Befreiung von der Sprache der Opfer wie von jener der Täter vollzogen. So kann sie heute, wie sie sagt, mit einer gewissen Gelassenheit etwa auch die Diskussion in Deutschland zum Beispiel um das Holocaust-Denkmal in Berlin verfolgen, „dabei haben mich die Analysen über den Kosovo-Krieg mehr interessiert, als diese Debatte.“ Mit Verwunderung nimmt sie zur Kenntnis, daß Juden und alles Jüdische in Westeuropa geradezu Mode geworden sind. „Vielleicht muß man die Völker erst ausrotten, bevor man sie anfängt, interessant zu finden.“

Aber die Flucht aus dem Deutschsein, der Akt der Befreiung, hinterläßt Schmerzen. Man kann eben nicht, auch das ist eine der „Lektionen des Verborgenen“, Sprache und Heimat bruchlos  wechseln. Das Buch endet mit der Beschreibung der Kinderschwester und Haushaltshilfe Cilly, welche Helena großgezogen hat. Cilly war eine nichtjüdische, etwas einfältige Deutsche, deren Eltern vermutlich Nazis gewesen waren. Aber allein durch ihre jahrelange Anwesenheit hatte sie im Leben der Autorin eine wichtige Rolle gespielt. Eine Art zweite Mutter („sie hat mich einfach liebgehabt“), die aber immer außerhalb stand und zu der Helena Janeczek nie eine richtige Beziehung hatte aufbauen können. Eine Art Sprachlosigkeit, spiegelbildlich zu der vieler Deutscher gegenüber den Juden, die sie lange Zeit verdrängen wollte – und die sie heute als eine Schuld erlebt.

Helena Janeczek: Lektionen des Verborgenen. Aus dem Italienischen von Moshe Kahn. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln. 191 Seiten, 22 Euro