PAMPHLET UND HOMMAGE


Zwischen Ausblick und Retrospektive: Fragen der Nachhaltigkeit, der Architektur und der Mobilität in zwei wichtigen Veröffentlichungen von Vittorio Magnago Lampugnani und Erik Wegerhoff im Wagenbach Verlag

© Cluverius

Altbau-Neubau: „Der gute Baubestand darf nicht leichtfertig gegen einen oft schlechteren und immer teueren ausgewechselt werden.“ (Mailand Isola-Viertel)

Mailand – Rund 80 Prozent der Weltbevölkerung wird im Jahr 2050 in Städten leben. In urbanen Räumen wird sich entscheiden, ob es der Menschheit gelingen kann, durch eine radikal nachhaltige Entwicklung die Klimakatastrophe wenigstens zu mindern. Architektur und Mobilität fallen damit im Rahmen der Stadtplanung eine entscheidende Rolle zu. Zwei Bände, die gerade im Wagenbach Verlag erschienen sind, beschäftigen sich – wenn auch mit unterschiedlichen Ansätzen – mit diesem brennenden Thema. Der Architekturhistoriker Vittorio Magnago Lampugnani (72) wendet sich in einem brillant formulierten Essay „Gegen Wegwerfarchitektur“. Sein Kollege Erik Wegerhoff (49) schlägt mit „Automobil und Architektur“ detailreich einen großen Bogen durch die jüngere Stadtgeschichte. In der hat das Auto, so seine These, als „ungleich bewegter Gegenspieler“ die Architektur von der Moderne bis zur Gegenwart beeinflusst.

Die Bauwirtschaft, so Lampugnani, gehört zu den größten Umweltsündern der Gegenwart. Sie sei verantwortlich für „knapp 40 Prozent des Energieverbrauchs, rund 50 Prozent der Emissionen von klimaschädlichen Gasen, 50 Prozent des Abfallaufkommens, 60 Prozent des Ressourcenverbrauchs und 70 Prozent des Flächenverbrauchs.“ Zugleich lebten „15 Prozent der Weltbevölkerung im Überfluss und verbrauchen 80 Prozent der Ressourcen.“ Würden die restlichen 85 Prozent so wirtschaften wie die Europäer und die Nordamerikaner, würde die Erde kollabieren. Ausgehend von einer radikalen Kritik des Konsumismus resultiert die Pflicht zu einem nachhaltigen, d.h. sparsamen Umgang mit den Ressourcen. Und eine Absage an Wahnvorstellungen des 20. Jahrhunderts, dass in ständigen Veränderungen einer kurzlebigen Architektur jede Generation sich ihre eigene neue Stadt bauen solle.

Ein Paradigmenwechsel in der Stadtentwicklung

Lampugnani analysiert und diskutiert Probleme und Zukunftsmodelle schlagwortartig in kurzen Abschnitten wie: „Wider die Landschaft als Wegwerfgut“, „Zwangsmobilität als städtebauliches Unheil“, „Dicht, kompakt und ökologisch“, „Langlebige Bauten als ökologische Strategie“ oder „Identität, Heimat und Dauer“. Und schließlich: „Umbauen, Rückbauen, Weiterbauen“. Der gute Baubestand in Europa dürfe nicht länger gleichsam weggeworfen und durch „einen oft schlechteren und immer teureren ausgewechselt“ werden,

Pflege des Alten ist angesagt, wie die nachhaltige Kultivierung der Stadt überhaupt. Auch wenn es wichtig ist, Stadt- und Naturraum voneinander abzugrenzen, so ist die Integration von Vegetation in die Stadt „unabdingbar“. Es braucht eine Reihe von Maßnahmen (Dachbegrünung, unversiegelte Flächen, Nischen für Urban Gardening und Urban Farming etc), um „die Verstädterung einzudämmen“. Es braucht eine gehörige Portion von Wildnis, um ein harmonisches Zusammenleben mit Tieren zu garantieren. „Die Vorstellungen einer überall geordneten, blitzblanken, pflegeleichten Stadt müssen hinterfragt werden.“ Biodiversität sei „für das Überleben der Menschheit unverzichtbar.“

Lampugnani fordert einen Paradigmenwechsel: Die Stadt dürfe nicht länger nach Marktregeln wie ein gewinnorientiertes Unternehmen funktionieren. Der Planet, lautet die Schlussforderung, sei mit weniger Konsum „sehr wohl in der Lage, all seinen Bewohnern ein Heim zu bieten.“ Unter der Voraussetzung, dass „wir bereit sind, unseren privaten Verbrauch zugunsten des allgemeinen Wohlstands zu reduzieren.“ Der Essay „Gegen Wegwerfarchitektur“ ist ein Pamphlet, eine Streitschrift als Anregung für Stadtbürger wie für Städtebauerinnen Altes zu nutzen und verantwortlich neue und nachhaltige architektonische Formen zu entwickeln.

Wenn Automobil und Immobilie aufeinandertreffen

Eine weniger mitreißende, aber dennoch höchst lesbare Erzählung liefert Erik Wegerhoff in seiner wissenschaftlichen Analyse der Beziehung von Automobil und Architektur. Sie widmet sich der Kollision von „ungebremster Logik und historischen Interieur“ als einem „kreativen Konflikt“. Die kulturhistorische Untersuchung ist eine leicht überarbeitete Version von Wegerhoffs Habilitationsschrift an der ETH Zürich. Sie fächert, unterstützt mit ausführlichen Anmerkungen, eine Fülle von Material für eine „alternative Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts“ auf. Ein Jahrhundert, in dem das Auto von einem teuren, elitären Fahrzeug zu einem Fortbewegungsmittel für alle und schließlich zu einem Verkehrs- und Umweltproblem geworden ist.

Wobei Wegerhoff das Auto nicht verteufeln möchte. Ganz im Gegenteil: Es habe, das müssten auch seine überzeugtesten Kritiker eingestehen, „die Architektur ein Jahrhundert lang beflügelt.“ Was bleibt, ist ein Rückblick ohne Zorn, eine Art „letzte Hommage für das Auto“. Sie gliedert sich in drei Teile. Unter dem Stichwort „Beschleunigen“ geht es um die Faszination für die Dynamisierung, die in den 1920er- und 1930er-Jahren vom Auto auf die Architektur überspringt. „Schalten“ überschreibt den Boom der 1950er- und 1960er-Jahre mit vielen gegensätzlichen Entwicklungen, in denen u.a. neben dem fließenden auch der ruhende Verkehr gestaltet werden will. „Abbremsen“ steht schließlich über Untersuchungen der Zeit bis in die 1990er-Jahre, in denen sich immer mehr Tendenzen zur Langsamkeit durchsetzen.

Ein Sog automobilen Tempos

Wegerhoff interessiert sich weniger für Tankstellen, Parkhäuser, Waschanlagen, Motels etc., sondern für „automophile“ Bauwerke wie das Atelier eines Malers bei Paris, ein Bürohochhaus in Zürich oder ein Thermalbad in Graubünden. „Wo das Bauwerk das Auto aufnimmt, wird dessen Erschließung zu einem zusammenhängenden Fluss geglättet.“ Die Architektur gerate in einen Sog automobilen Tempos, „der sich in Kurven, Rampen und Spiralen zeigt und den Menschen auf einen Parcours durch das Gebäude schickt, der eigentlich fürs Rollen geschaffen scheint anstatt fürs Gehen.“

© Open House Zürich

Das Hochhaus zur Palme in Zürich (Haefli Moser Steiger 1956-1964) war der gebaute Versuch, zwischen Fußgänger und Auto zu vermitteln.

Natürlich spielen Straßen eine Rolle als Architekturen, die automobile Bewegung überhaupt erst ermöglichen. Wobei ein langer Abschnitt über die „Strada Novissima“ auf der Architekturbiennale Venedig 1980 wie eine kleine, in sich geschlossene Abhandlung wirkt. Die „Straße“ auf der Biennale gestaltete mit einer Folge von Fassaden gleichsam eine Theaterlandschaft, die sich spielerisch und technikkritisch gab – ohne das Auto überhaupt zu erwähnen. Doch führt die Analyse der „Strada Novissima“ indirekt auch zum Fußgänger, der schließlich am Ende des Jahrhunderts als Gegenspieler zum bewegten Automobil auf den Plan tritt.

Der spannungsreiche und kreative Konflikt zwischen Automobil und Architektur ist jetzt nur noch im „Rückspiegel“ zu sehen. Neue Akteure treten auf die Bühne. Die Natur? Der Blick auf Fragen von zukünftiger Mobilität, Architektur und Stadtentwicklung weise, so Erik Wegerhoff ohne sich festzulegen, „woandershin“. Aber er werde wahrscheinlich nicht mehr durch eine Windschutzscheibe führen.

Vittorio Magnago Lampugnani: Gegen Wegwerfarchitektur. Dichter, dauerhafter, weniger bauen. 128 Seiten, 18 Euro

Erik Wegerhoff: Automobil und Architektur. Ein kreativer Konflikt. 240 Seiten, 32 Euro

Beide Titel im Verlag Klaus Wagenbach, Berlin (2023)