SEIN HEISST WEBEN


Zwei Ausstellungen über Maria Lai zum 100. Geburtstag der sardischen Künstlerin in Rom und in Ulassai

© Cluverius

Eine Skulptur zur Erinnerung an Antonio Gramsci auf dem Gelände des „Kunstbahnhofes“ von Ulassai

Ulassai/Rom – Kunst sei, Dinge miteinander zu verbinden, in Beziehung zu setzen, ohne ihnen ihre Eigenart zu nehmen. Das war das Credo der Künstlerin Maria Lai, die 1919 in Ulassai, einem Dorf auf Sardinen geboren wurde. Ausstellungen zu ihrem 100. Geburtstag zeigen das römische Museum MAXXI und die Stazione dell’Arte, der „Kunstbahnhof“ von Ulassai. Maria Lai starb 2013 im Alter von 93 Jahren. Posthum wurde ihr Werk auf der documenta 14 und der Kunstbiennale Venedig gewürdigt.

Unter schwierigen Verhältnissen in Ulassai aufgewachsen, ging Maria Lai in Cagliari zur Schule, wo der Dichter Salvatore Cambosu ihr Italienischlehrer war. Cambosu erkannte früh ihr künstlerisches Geschick und setzte durch, dass sie nach Rom geschickt wurde, wo sie 1941 auf einem Kunstgymnasium Abitur machen konnte. In den Kriegsjahren wechselte sie nach Venedig, um an der Kunstakademie bei Arturo Martini, dem damals wohl bekanntesten Bildhauer Italiens, zu studieren. Nach dem Krieg gab sie zunächst Zeichenunterricht an Grundschulen auf Sardinien und lebte dann wieder in der italienischen Hauptstadt. 1957 machte sie bei einer ersten Ausstellung in Rom mit Zeichnungen auf sich aufmerksam. In den Jahren danach, beeinflusst durch die Arte-Povera-Bewegung und die Informelle Kunst, wandte Maria Lai sich immer mehr den Traditionen ihrer Heimatinsel zu. Von der Art Brot zu backen bis zur Kunst des Webens und Stickens – und beeinflusst von den Texten Cambosus etwa in seinem Hauptwerk Miele amaro („Bitterer Honig“).

Urzeitliches und Gegenwärtiges

Essere è tessere – Sein heißt nach Maria Lai Weben, Spinnen, Flechten, Sticken. Eindrucksvoll lassen die in Rom gezeigten Exponate die Grundhaltung der sardischen Künstlerin erkennen. Ihre „Bilder“ bestehen aus mit Fäden bestickten Stoffen. Sie „beschreibt“ Bücher, indem sie unlesbare Zeilen in Seiten aus Leinen einstickt. Webrahmen bilden Ready-mades oder werden zu Skulpturen umgestaltet. Konkretes und Abstraktes durchdringen sich wie auch Urzeitliches und Gegenwärtiges. Es sind liebevoll hergestellte, zarte Arbeiten, die etwas Unfertiges, Offenes haben.

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Der schattenfressende Drache – Maria Lai Illustration

Das Oeuvre der Künstlerin ist vielseitig. Maria Lai entwirft Kartenspiele oder illustriert traditionelle oder selbst erdachte Märchen in sogenannten fiabe cucite – „genähten Fabeln“. Das sind Werke in Buchform, mit dem Maria Lai auf Seiten aus Stoff die jeweilige Geschichte illustriert. Das könne, so Davide Mariani, auf den ersten Blick ganz spielerisch wirken, voller Lebenslust. „Aber zur Fabel gehört auch eine Moral, die tiefer geht.“

Den Schatten an die Hand nehmen

Davide Mariani ist der Direktor der Stazione dell’Arte, des Museums für Gegenwartskunst von Ulassai auf Sardinien. Ulassai, der Geburtsort von Maria Lai, liegt abgelegen im Inneren der Insel unterhalb eines Bergmassivs. Erdrutsche bedrohen seit Urzeiten den Ort und seine rund 1500 Einwohner. Im kleinen ehemaligen Bahnhof des Ortes wurde 2006 mit einer Schenkung von Maria Lai das Museum eingerichtet. Es besitzt heute mit rund 250 Arbeiten die größte öffentliche Sammlung ihrer Werke. Zum 100. Geburtstag steht hier ihre Fabel Tenendo per mano l’ombra – „Den Schatten an die Hand nehmen“ im Mittelpunkt. Es geht um Schatten, die den Einzelnen bedrohen und um solche, die über der Gemeinschaft liegen. Schatten, denen man sich stellen muss. Sonst kommt ein Drache, der sich von Schatten ernährt und die Persönlichkeit der Einzelnen zerstört.

„Maria Lai geht ganz in ihrem Heimatort auf“, erzählt Davide Mariani. Er stelle für sie ein kreatives Universum dar, „eine Metapher für die Welt“. Und die lokalen Bedrohungen durch Erdrutsche stehen auch für die globalen Bedrohungen der Gegenwart und eine Welt voller Ängste.“

Die Legende vom azurblauen Band

Neben dem Haupthaus der Stazione dell’Arte steht eine Skulptur aus Metallstäben, mit der Maria Lai an den 70. Todestag des marxistischen Philosophen Antonio Gramsci ganz auf ihre Art erinnert. Sie verbindet Elemente aus der Geschichte „Die Maus und der Berg“, die der aus Sardinien stammende Gramsci im Gefängnis für seinen Sohn geschrieben hat, mit Figuren einer Legende aus Ulassai um das Nastro azzurro, das azurblaue Band. Erzählt wird von einem Kind, das einen Erdrutsch überlebt, weil es neugierig den Flug eines azurblauen Bandes am Himmel verfolgt und nicht Schutz in einer Höhle sucht, die verschüttet wird. Diese Legende, die in Ulassai jeder kennt, war für Maria Lai eine Metapher für Kunst – etwas Fragiles, Unnützes, Schönes, das doch Rettung bringt.

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Bilder aus Stoff, genähte Bücher, bestickte Tücher – Ausstellungsraum in der Stazione dell’Arte zum „Den Schatten an die Hand nehmen“

Es ist diese Geschichte, die Maria Lai 1981 zu der Aktion Legarsi alla montagna – „Sich mit dem Berg verknüpfen“ anregte. Ein himmelblauer Stoffstreifen verband alle Einwohner des Ortes untereinander und mit dem Berg. Das war eine Art Bitte an den Berg um Frieden.

Das blaue Band legte auch die Spannungen unter den Einwohnern offen, denn die Nachbarschaftsbeziehungen waren (und sind) nicht immer ungetrübt. Es dauerte eine Zeit lang, bis man ein Modus fand, sich auch mit denen zu verbinden, mit denen man sonst nichts zu tun haben wollte. Davide Mariani erläutert:

„Wenn das Band direkt zwischen zwei Personen verlief, bedeutete das, dass sie einander nicht grün waren. Gab es einen Knoten, war Freundschaft vorhanden. Wurde gar ein Stück Festtagsbrot eingebunden, konnte man von Liebe sprechen.“

Kunst im alten Waschbrunnen

Ursprünglich hatte die Gemeindeverwaltung die Künstlerin gebeten, ein Projekt für ein Denkmal zu Ehren der Gefallenen der beiden Weltkriege zu entwickeln. Sie könne nur Denkmäler für Lebende schaffen, antwortete sie – und schlug alternativ die Performance „Legarsi alla montagna“. Der Gemeinderat stimmte zu – hatte aber bereits 60 Millionen Lire für das Denkmal bereit gestellt, die Maria Lai für Ihre Arbeit – übrigens das erste Werk einer „Relational Art“ in Italien – nicht einsetzen wollte.

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Aus Dank fürs Brotbacken – ein Kopftuch bestickt

Sie ließ darauf hin unter den Frauen im Ort abstimmen, was man mit dem Geld machen sollte. Die Mehrheit entschied sich 1982 für die Restaurierung des alten überdachten lavatoio (Waschbrunnen) im Ort, um so auch einen Treffpunkt für Frauen zu bekommen. Maria Lai schuf nach Abschluss der Restaurierung der Anlage einen Webrahmen als Deckenschmuck. Und der sardische Bildhauer Costantino Nivola (1911-1988) kreierte für den lavatoio eine „fontana sonora“, einen „tönenden Brunnen“– sein letztes größeres Werk vor dem Tod.

Maria Lai habe sich immer offen gegenüber der Gemeinschaft gezeigt, sich als Künstlerin nicht in einen Elfenbeinturm zurückgezogen, so Davide Mariani. Zur Eröffnung des lavatoio bat sie die Frauen von Ulassai Feiertagsbrot zu backen. Um sich bei ihnen dafür zu bedanken, ließ sie sich traditionelle Kopftücher geben, um die dann bestickt der Besitzerin wieder auszuhändigen. Nicht alle Frauen stimmten begeistert zu. Traditionelle Kopftücher waren nicht mit Blumenmuster bestickt. Aber sie behielten es doch als Andenken. Einige davon sind heute in Ausstellung der Stazione dell’Arte zum 100. Geburtstag zu sehen.

Der Band „Miele amaro“ mit einem Titelentwurf von Maria Lai

Maria Lai – tenendo per mano il sole. MAXXI, Rom, bis 12.1.2020. Info hier
Maria Lai – tenendo per mano l’ombra. Stazione dell’Arte, Ulassai, bis 3.11.2019. Info hier

Der Deutschlandfunk hat am 3.8.2019 in der Sendung „Kultur heute“ einen Beitrag über Maria Lai gesendet. Hier zum Hören.